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Mariana

Mariana

Titel: Mariana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monica Dickens
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stellte befriedigt fest, daß niemand, nicht einmal Muriel Hopkins, lachte. «Hast du eine schriftliche Entschuldigung für dein Zuspätkommen?»
    «Nein», sagte Mary, «leider nicht. Ich hab meinen Onkel zum Bahnhof gebracht, er fährt nach Amerika.»
    «Deinen Onkel — hm — .» Miß Langford ging mit einem leichten Flattern der Augenlider über den Casanova der Leinwand hinweg. «Du hättest gestern um Erlaubnis bitten müssen. Ich kann wirklich nicht dulden, daß — hör mal, Shannon!» Sie beugte sich näher zu Mary. «Du hast ja getrunken.»
    Hinter sich hörte Mary, wie ein sensationslüsternes Raunen durch die Klasse ging — die widerliche Schadenfreude der Tugendbolde. Vor ihr stand Miß Langford mit strengem Gesicht und wartete, ihres Triumphes gewiß, auf eine Erklärung oder darauf, daß Mary - wenn auch vergeblich — leugnen würde.
    Etwas, wovon sie gar nicht wußte, daß es in ihr schlummerte, schoß plötzlich in Mary hoch, ein besinnungsloser, rotglühender Zorn. Bevor sie sich zurückhalten konnte, brach es aus ihr heraus: «Es geht Sie überhaupt nichts an, was ich außerhalb der Schule mache. Sie werden nur dafür bezahlt, daß Sie mich hier drinnen herumkommandieren.» Doch kaum hatte sie das letzte Wort gesprochen, war dieser Anfall von Wahnsinn auch schon vorbei. Mary war entsetzt. Hatte sie das wirklich gesagt? Das war doch gar nicht möglich. Der kalte Angstschweiß brach ihr aus. Alle hielten den Atem an. Es war totenstill im Raum, und Mary spürte, wie ihr das Herz bis zum Halse schlug. Miß Langford schluckte ein paarmal, als ob ihr ein Kloß in der Kehle steckte.
    «Du kannst dich setzen», sagte sie dann.
    Einen ganzen Tag verbrachte Mary in Ungewißheit über ihr weiteres Schicksal. Niemand, nicht einmal Angela, konnte ihre qualvolle Angst verstehen, geschweige denn sie davon befreien. Sie sagte sich immer wieder, daß es absurd sei, sich mit sechzehn Jahren so anzustellen, daß sie doch schließlich keinen Mord verübt habe, und daß sie in ein paar Monaten die ganze Sache nur noch komisch finden würde, aber das half alles nichts. Sie hatte entsetzliche Angst, so, als ob die enge, kleine Welt von St. Martin’s das Universum sei, solche Angst hatte sie.
    Sie war fast erleichtert, als die Spannung sich löste. In der Pause schlich sie allein auf dem Schulhof umher und scharrte mit ihren Schuhspitzen auf dem Asphalt entlang, als ein kleines Ding mit abstehenden Zöpfchen auf sie zukam: «Sag mal, bist du nicht Mary Shannon? So ähnlich war doch wohl dein komischer Name?»
    «Ja», sagte Mary, die sich zu elend fühlte, um sich zur Wehr zu setzen. ‘
    «Du sollst zu dem alten Besen ins Büro kommen», sagte das Balg. «Und zwar sofort», fügte sie mit einer gewissen Schadenfreude hinzu und starrte Mary, die sich umwandte, um ihrem Verderben entgegenzugehen, nach.
    Der war die Direktorin, Miß Gertrude Strawbridge, geschlechtslos, allmächtig und furchterregend wie Gottvater selbst. Als Mary sich die Stufen vom Schulhof herunterschleppte, durch die Flügeltür ging und die Treppen hinauf und den Gang entlang schlich, da dachte sie, daß nichts, was sich je in ihrem Leben ereignen würde, so schlimm sein könnte wie dieser Augenblick. Es war wie der Weltuntergang. Jahre später noch, als sie sich wunderte, welche übertriebene Bedeutung sie der Sache beigemessen hatte, erinnerte sie sich genau, wie ihr damals zumute war — wie einem zum Tode Verurteilten, der zum Galgen schritt. Sie klopfte an die Tür des Arbeitszimmers, und in dem Augenblick, ehe sie hineinging, legte sie ein Gelübde ab. Zehn Minuten später, als sie wieder herauskam, bekräftigte sie dieses Gelübde: «Wenn ich jemals eine Tochter habe, so werde ich sie niemals zwingen, zur Schule zu gehen.»
    Es war nicht die Strafe als solche, die sie kränkte, obwohl sie streng genug ausgefallen war, aber die grenzenlose Verachtung, mit der diese alte, vertrocknete Bildungsmaschine sie behandelte, demütigte sie tief. War diese alte Schachtel, die nie von einem Mann begehrt worden war, neidisch auf ihre Jugend? Nahm sie es ihr übel, daß für sie noch die Hoffnung auf ein Glück bestand, die sie selbst hatte aufgeben müssen? Nach Jahren erkannte Mary, daß sie nicht Haß, sondern Mitleid hätte empfinden sollen.

    Das vierte Ereignis betraf Mary und Denys. In diesem Jahr trug Mary für das Weihnachtsfestmahl in Charbury ein langes, weißes Abendkleid aus Chiffon.
    «Und du findest wirklich nicht, daß es wie

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