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Marias Testament

Marias Testament

Titel: Marias Testament Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colm Tóibín
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irgendwelche Männer hinter ihm die Geduld und kamen mit Knütteln und Peitschen heran, um ihn weiterzutreiben. Eine Zeitlang schien er allen Schmerz zu vergessen und schob das Kreuz vorwärts, oder schleppte es. Wir hasteten ihm voraus. Ich fragte mich noch immer, ob seine Anhänger einen Plan hatten, ob sie irgendwo warteten oder ob sie sich, wie wir, verkleidet unters Volk gemischt hatten. Ich wollte nicht fragen, und es wäre jetzt ohnehin nicht möglich gewesen, denn mir war bewusst, dass jedes Wort, das wir wechselten, oder jeder Blick, den wir uns zuwarfen, jeden von uns in der allgemeinen Raserei gleichfalls zu einem Opfer gemacht hätte, das man treten oder steinigen oder abführen würde.
    Als ich seinen Blick erhaschte, änderte sich alles. Wir waren ihm vorausgegangen, und plötzlich drehte ich mich um, und ich sah, dass er wieder einmal versuchte, die Dornen zu entfernen, die sich ihm in die Stirn und den Hinterkopf bohrten, und, unfähig, sich irgendwie Linderung zu verschaffen, den Kopf einen Augenblick lang hob, sodass seine Augen die meinen erblickten. Aller Kummer, alle Erschütterung schienen sich in einem Punkt in meiner Brust zu konzentrieren. Ich schrie auf und wollte ihm entgegenlaufen, wurde aber von meinen Gefährten zurückgehalten, während Maria mir zuflüsterte, dass ich still sein und mich zusammennehmen müsste, sonst würde man mich erkennen und abführen.
    Er war der Junge, den ich geboren hatte, und er war jetzt wehrloser, als er damals gewesen war. Und wenn ich ihn in jenen Tagen nach seiner Geburt in den Armen hielt und ansah, war unter meinen Gedanken auch der Gedanke, dass ich jetzt jemanden hatte, der über mich wachen würde, wenn ich im Sterben läge, der für meinen Leichnam sorgen würde, wenn ich gestorben wäre. Wenn ich in jenen Tagen auch nur geträumt hätte, ich würde ihn blutbesudelt sehen und die Menge um ihn voller Gier, ihn noch blutiger zu sehen, dann hätte ich aufgeschrien, so wie ich an jenem Tag aufschrie, und der Schrei wäre aus meinem Innersten gekommen. Der Rest von mir ist nichts als Fleisch und Blut und Knochen.
    Während Maria und unser Führer mir unentwegt sagten, ich dürfe nicht versuchen, ihn anzusprechen, ich dürfe nicht wieder schreien, folgte ich ihnen den Hügel hinauf. Es war leicht, in den Anwesenden aufzugehen, die alle durcheinanderredeten oder lachten, manche ein Pferd oder einen Esel am Zügel, andere essend und trinkend, die Soldaten in einer Sprache schreiend, die wir nicht verstanden, manche von ihnen mit roten Haaren und kaputten Zähnen und groben Gesichtszügen. Es war wie auf dem Marktplatz, aber irgendwie konzentrierter, als ob die Darbietung, die bald stattfinden sollte, sowohl Kaufmann wie Käufer zum Vorteil gereichen würde. Die ganze Zeit meinte ich, es wäre immer noch leicht, unbemerkt zu entwischen, und ich hegte die Hoffnung, dass seine Anhänger vielleicht einen Plan ersonnen hätten, wie er durch dieses Gewühl hindurch und aus der Stadt hinaus, an irgendeinen sicheren Ort fliehen könnte. Doch dann auf der Kuppe des Hügels sah ich ein paar von ihnen ein Loch graben, und ich begriff, dass die Leute es hier ernst meinten; sie waren aus demselben, einzigen Grund hier, auch wenn es wie ein Treffen bunter, verschiedener Gruppen aussehen mochte.
    Wir warteten, und es dauerte eine Stunde oder vielleicht länger, bis die Prozession ankam. Es war jetzt irgendwie einfacher, zwischen denen zu unterscheiden, die aus einem triftigen Grund dort waren, die in jemandes Sold standen und Anweisungen ausführten, und denen, die lediglich zum Zuschauen da waren. Merkwürdig war, wie wenig manche von ihnen achtgaben, während andere sich daranmachten, ihn ans Kreuz zu nageln, und dann versuchten, das Kreuz mithilfe von Seilen zum Loch zu schleifen, das sie gegraben hatten, um es darin zum Stehen zu bringen.
    Das eigentliche Nageln sahen wir uns nur von weitem an. Jeder einzelne Nagel war länger als meine Hand. Fünf oder sechs Männer mussten ihn festhalten und seinen Arm auf dem Kreuzbalken ausstrecken, und dann, als sie anfingen, den ersten Nagel in ihn hineinzutreiben, an der Stelle, wo sich Unterarm und Hand berühren, heulte er vor Schmerz auf. Er widersetzte sich, während Blut hervorspritzte und das Hämmern begann, das den langen Dorn des Nagels ins Holz hineinbekommen sollte, und sie seine Hand und seinen Arm gegen das Kreuz quetschten, während er brüllte und sich wand. Als sie es geschafft hatten, unternahm er alles, um sie

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