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Marias Testament

Marias Testament

Titel: Marias Testament Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colm Tóibín
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des Entzückens, aber auch der Erschütterung und etwas wie Unbehagen, das zu einem Hunger nach mehr wuchs, und so wurde aus dem Keuchen Geschrei und Gejohle und Gellen und Pfeifen. Denn auf den Balkon trat nun, das Gesicht mit Blut überströmt und ein Ding aus Dornen in die Schläfen gedrückt, mein Sohn, in den Purpurmantel eines Königs gekleidet, der ihm auf eine Weise von den Schultern herabhängte, die mich vermuten ließ, dass seine Hände hinter dem Rücken gebunden waren. Er war von Soldaten umringt. Die Menge begann zu lachen und zu grölen, als die Soldaten ihn auf dem Balkon herumstießen. Wegen der Art, wie er auf die Stöße reagierte, ahnte ich, dass etwas geschehen war, das ihn geschwächt hatte. Aus dieser Entfernung wirkte er zermürbt, fast resigniert. Sobald Pilatus wieder das Wort ergriff, unterbrach ihn die Menge, aber er verlangte, dass man ihn anhörte.
    »Sehet, welch ein Mensch!«, sagte er.
    An der Stirnseite und, wie ich bemerkte, ringsum an den Rändern der Menschenmasse begannen Hohepriester, den anderen vorzuschreien: »Kreuzige! Kreuzige!« Pilatus gebot wieder Ruhe. Er trat näher an meinen Sohn heran, wie um ihn aufrecht zu halten und die Soldaten daran zu hindern, ihn zu stoßen. Er rief zum obersten Priester: »Nehmt ihr ihn und kreuzigt ihn, denn ich finde keine Schuld an ihm.« Und einer der Hohepriester schrie: »Wir haben ein Gesetz, und nach diesem muss er sterben, denn er hat sich selbst zu Gottes Sohn ernannt!« Abermals zog sich Pilatus zurück und befahl, dass man den Gefangenen mit ihm ins Haus zurückführte. Als er sich umdrehte, bemerkte ich – und ich konnte sein Gesicht ganz deutlich sehen –, dass er die Volksmenge voller Furcht und Verwirrung ansah. Obwohl es an diesem Punkt so aussah, als spielte Pilatus mit dem Gedanken, ihn freizulassen, ist mir heute klar, dass ich die Einzige war, die sich noch dieser Hoffnung hingab. Alle anderen wussten, dass da etwas um der Zukunft willen durchgespielt wurde, dass jetzt nichts zählte außer der Tötung. Als sie also wieder zurückkamen und Pilatus rief: »Sehet, das ist euer König!«, versetzte dies die Menge nur in rasende Wut. Überall schrien sie die Worte: »Weg, weg mit dem! Kreuzige ihn!«, als ob diese Worte, einmal in Taten umgesetzt, unendliche Freude und Seligkeit bedeutet hätten, ein Gefühl des Überflusses und der Erfüllung. Als Pilatus erneut brüllte: »Soll ich euren König kreuzigen?«, war es nur so, als würde man einem Hund einen Stock zuwerfen. Es wirkte regelrecht wie ein Spiel, und sie erwiderten: »Wir haben keinen König außer dem Kaiser!« Da wurde er von Pilatus der Menge überantwortet, und die Menge war willig und bereit; wäre ein jeder von ihnen dazu aufgerufen worden, hätte er persönlich dabei mitgeholfen, das Leiden zu ermöglichen. Wir drängten uns langsam und mit Mühe an den Rand, sodass wir uns jetzt vor einer gerade entstandenen Gruppe von Männern befanden, die ihren Freunden Grüße zukreischten, und ich hatte das Gefühl, dass das Blut jedes Einzelnen voll Gift war, einem Gift, das im Gewand von Tatendrang, Gelächter, gebrüllten Anweisungen daherkam, während sie den Weg für die schaurige Prozession zu dem Hügel hinter ihnen bereiteten.
    Während wir uns nach vorne drängten und versuchten, nicht voneinander getrennt zu werden, muss jeder Einzelne von uns, jeder auf seine Weise, wie die übrigen Anwesenden erschienen sein, es muss so ausgesehen haben, als ob auch wir erregt nach der Erfüllung der glorreichen Pflicht gierten, danach, dass jemand, der behauptete, König zu sein, verspottet und vorgeführt und bis ins Innerste gedemütigt wurde, um dann – auf einem Hügel, damit alle ihn sterben sehen konnten – qualvoll getötet zu werden. Und es war auch merkwürdig, dass mir die Füße in den Schuhen wehtaten, die nicht für dieses Gewühl und diese Hitze gemacht waren, und dass ich mich so gelegentlich von dem ablenkte, was dort wirklich geschah.
    *
    Als ich das Kreuz sah, verschlug es mir den Atem. Es lag schon bereit, es wartete auf ihn. Es war zu schwer, und so zwang man ihn, es durch die Menschenmenge hindurchzuschleifen. Ich bemerkte, dass er mehrere Male versuchte, die Dornen von seinem Kopf zu entfernen, aber seine Bemühungen hatten keinen Erfolg und schienen vielmehr zu bewirken, dass sich die Dornen umso tiefer in die Haut und den Knochen seines Schädels bohrten. Jedes Mal wenn er die Hände hob und versuchte, den stechenden Schmerz zu lindern, verloren

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