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Marias Testament

Marias Testament

Titel: Marias Testament Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colm Tóibín
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alles, was mich nur vom Stöhnen ablenkte, das von nahebei kam. Ich fragte mich, ob ich mir nicht irgendwie einreden könnte, das alles finde gar nicht statt, es sei früher einmal einem anderen geschehen, oder es würde sich einmal in einer Zukunft abspielen, die ich nie würde durchleben müssen. Weil ich mich so aufmerksam umgeschaut hatte, wusste ich, dass etwas abseits eine Gruppe von Männern stand, teils Römer, teils Älteste, und sie hatten Pferde dabei, und an der Art, wie sie die Szene beobachteten und umeinander schlenderten, erkannte ich, dass sie diejenigen waren, die das Sagen hatten, auch wenn viele andere Ereignisse hier zufällig waren, Teil des Tages vor dem Sabbat: Diese Männer waren schroff, entschlossen, wohlgenährt, ernst. Plötzlich sah ich, dass unter ihnen mein Vetter Markus war und dass er mich gesehen hatte. Bevor die anderen mich aufhalten konnten, lief ich ihm entgegen, und ich wusste, wie töricht ich ausgesehen haben muss, wie hilflos und elend und schrill. Vermutlich hatte ich die Arme ausgebreitet, und vermutlich war mein Gesicht nass von Tränen, und vermutlich redete ich wirr. Ich erinnere mich an die gleichgültigen oder mild gereizten Blicke einiger der anderen Männer, die sich in Markus’ Gesicht widerspiegelten und dann in eine dunkle Brutalität umschlugen, als er mir befahl, mich von ihnen zu entfernen. Ich weiß, dass ich seinen Namen nicht aussprach. Ich weiß, dass ich ihn nicht als meinen Vetter anredete. Und ich sah Angst in seinem Gesicht, und dann sah ich, wie rasch sie verblasste und in die Entschlossenheit umschlug, mich aus dem Dunstkreis dieser Männer entfernen zu lassen, denen sich niemand sonst zu nähern wagte. Er nickte jemandem zu, und es war dieser Mann, der später dicht bei den hängenden Körpern Würfel spielte und der mich die ganze Zeit beobachten sollte, der zu wissen schien, wer ich war, und der, glaube ich, die Anweisung hatte, mich festzuhalten, mich festzunehmen, sobald der Tod eingetreten wäre und die Menge sich verlaufen haben würde. Wie ich später begriff, glaubten sie alle, dass wir bis zum Ende warten würden, um den Leichnam zu nehmen und ihn zu begraben. Das war etwas, was die Römer mittlerweile über uns wussten; wir würden eine Leiche nie den Elementen preisgeben. Wir würden warten, wie groß die Gefahr auch wäre.
    *
    Mein Aufpasser, der jetzt in dieses Haus kommt, und der andere, der mir noch weniger gefällt, sie möchten, dass meine Schilderung dieser Stunden schlicht ausfällt, sie wollen wissen, welche Worte ich hörte, sie wollen von meinem Kummer nur erfahren, wenn er als das Wort »Kummer« oder das Wort »Leid« daherkommt. Obwohl einer von ihnen das Gleiche miterlebte wie ich, will er nicht, dass es so verworren festgehalten wird, mit seltsamen Erinnerungen an einen Himmel, der dunkel und dann wieder hell wurde, oder an andere Stimmen, die das Stöhnen und die Schreie und das Wimmern übertönten, oder sogar das Schweigen, das von der Gestalt am Kreuz ausging. Und an den Rauch der Feuer, der beißender wurde und uns allen in den Augen brannte, weil nicht der leiseste Wind zu wehen schien, gleich in welche Richtung. Sie wollen nichts davon hören, dass eines der anderen Kreuze regelmäßig umkippte und schließlich abgestützt werden musste, ebenso wenig wollen sie von dem Mann hören, der daherkam und Kaninchen einem zornigen, aufgehetzten Raubvogel zum Fraß vorwarf in einem Käfig, der zu klein war für die Spannweite seiner Flügel.
    In diesen Stunden ereigneten sich in jedem Augenblick neue Dinge. Das Gefühl, dass ich etwas tun konnte, gab ich auf. Ich ließ es durch kälteste Gedanken hinter mir – den Gedanken, dass es eigentlich überhaupt nicht passierte, da das nicht mir passierte, da ich ja nicht die Person war, die zu Tode gekreuzigt wurde. Den Gedanken an ihn als Säugling, als Teil meines Fleisches, da sein Herz aus meinem Herzen hervorgewachsen war. Und den Impuls, zu den anderen zu laufen, um in die Arme genommen zu werden oder Fragen zu stellen. Oder danach zu schauen, ob einer der Männer ein Zeichen machte, dass die Sache schneller enden sollte. Oder endlich zu begreifen, dass Markus mich nur deswegen in die Stadt gelockt und mir eine Adresse gegeben hatte, damit man mich festhalten könnte, wenn es vorbei wäre, beziehungsweise schon am Tag davor.
    Und dann in der letzten Stunde, als die Menge sich lichtete und sich einige der Männer an den Abstieg machten, war keine Zeit mehr, zu fragen oder zu

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