Marie ... : Historischer Roman (German Edition)
mit altertümlichen Zinnen versehen, mit zweiundzwanzig – ich sagte es bereits -, Bérenger und Boudet blieben sich auch hierin treu.
Der Fußboden im Untergeschoß, wo sich die Bibliothek befindet, wurde mit grau-weißen Fliesen im Mäandermuster ausgelegt. Später riss sie Bérenger wieder heraus und ersetzte sie durch wundervolle, handbemalte Fliesen, so dass man auf den ersten Blick meint, einen kunstvoll geknüpften Teppich aus Persien vor sich zu haben.
Im zweiten Stock hat sich Bérenger einen gemütlichen kleinen Schlafraum eingerichtet, worüber ich ganz und gar nicht glücklich war.
Endlich war das schwarze Buch wieder an Ort und Stelle, und ich war derart fasziniert von all den Seiten, die Bérenger inzwischen gefüllt hatte, dass ich darüber ganz die Zeit vergaß. Erst als ich unseren „Monsignore“ wiehern hörte, kam ich wieder zu mir, steckte das Buch zurück, schloss den Schrank ab und rannte in die Villa, um schnell den Schlüssel über Bérengers Bett zu hängen.
Das, was mich an diesem Nachmittag so gefangen gehalten hatte, dass ich Raum und Zeit vergaß, war Stoff für viele unruhige Nächte. Zuerst war mir ein bestimmtes Wort aufgefallen, als ich ungeduldig hin- und hergeblättert hatte: „GALILÄA“ hatte er geschrieben, in auffällig großen Buchstaben. Sofort hatte ich wieder den buckligen Jean vor Augen: Seine hocherhobene Faust, die alberne Drohung. Henriette, wie sie gelacht hatte.
Sollte Bérenger tatsächlich im Wald ... vor diesem Fremden ...?
Doch dann stieß ich ein weiteres Mal auf das Wort:
„Die Galiläa-Theorie! Matthäus 26, 32 und 28, 16.
(Eine phantastische Spur! E. Cs. Idee.)
Et in Arcadia ego?“
E. Cs. Idee? Emmas Idee? Ich traute meinen Augen kaum und zitterte vor Empörung. Was hatte die Sängerin plötzlich mit dieser Sache zu tun? Wie konnte Bérenger es wagen, mit ihr über Dinge zu disputieren, die er mir verschwieg! Andererseits, wenn er ihr Saphirringe schenkte ...
Dann dieses „Et in Arcadia ego“? Das war lateinisch. Bestimmt hing es mit Arkadien zusammen, mit Hoffets Zettel? Aufgeregt blätterte ich weiter. Ständig diese Abkürzungen! Obendrein eine halbe Seite mit völlig unverständlichen griechischen Buchstaben. Doch auf der nächsten ... endlich!
„XXXV HIRTE VERSUCHT NICHT DIE KÖNIGIN DER KRETE
OHNE DAS SALZ UND DAS KREUZ
DER DÄMON DES TANZFESTES
HAT DORT SEINEN BOGEN GESPANNT“
Dieses Rätsel kannte ich bereits. Aber hier war Bérenger offenbar weitergekommen, denn von den Wörtern Krete, Salz und Kreuz war jeweils ein Pfeil auf einige Anfügungen gerichtet, die folgendermaßen lauteten:
„KRETE. Gebirgsähnliche, karge Landschaft (um Rennes!) Königin der Krete: Ein Berg in Arkadien? Sind die Hirten (Katharer) die Suchenden oder diejenigen, die verbergen?
SALZ. War früher selten, wertvoll! B. vermutet den Gebirgsbach ´Sals`, der durch Rennes-les-Bains fließt; nochmals die Landkarte studieren!
KREUZ. Die Katharer verabscheuten das Kreuz – (irdisch – d. h. vom Teufel!)
´Würdet ihr das Seil verehren, an dem euer Vater aufgeknüpft worden ist?`
DÄMON. Noch immer ungelöst: Wo hat der Dämon seinen Bogen gespannt?
Ganz sicher nicht in der Höhle von Lombrive. B. hatte unrecht!
Wie sieht es mit dem Lagastous-Schacht aus?“
Interessant! Die Pyrenäenhöhle war also eine glatte Fehlanzeige gewesen.
Auf der nächsten Seite folgte eine – vermutlich exakte - Aufstellung aller Gräber auf unserem Gottesacker, auch die der anonymen und der nicht getauften Kinder. Einige Gräber waren mit einem Kreuz versehen. Darunter dann erneut zwei flüchtig hingeworfene, äußerst merkwürdige Sätze: „Man wird mich steinigen! Was Jupiter erlaubt ist, ist einem Ochsen noch lange nicht erlaubt!“
Steinigen? Was beunruhigte ihn derart? Vor wem hatte er Angst?
Ich dachte bei mir: Eines Tages werden wir beide dort auf dem Totenacker liegen. Bérenger und ich. Doch nicht in einem gemeinsamen Grab. Das wäre nicht schicklich.
Auch heute – am Tag der Heiligen Theresa von Avila im Jahr 1906 - bin ich dieser wehmütigen Stimmung, denke ich, nach allem was inzwischen auf uns eingestürzt ist, an den Tod. Der Mann, den ich noch immer von Herzen liebe, hat sich auch an diesem Abend wieder in seinen Turm zurückgezogen. Längst hat er den Ort gefunden, an dem der Dämon seinen Bogen gespannt hat. Doch er gibt noch immer keine Ruhe. Schließe ich die Augen, so sehe ich ihn vor mir, wie er an seinem Schreibtisch sitzt, neben den
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