Marie ... : Historischer Roman (German Edition)
Katharer gelesen, über den schrecklichen Anführer des Kreuzzuges, Simon de Montfort; über die schier uneinnehmbaren Festungen gleich Adlerhorsten hoch in den Bergen, in die sich die Ketzer geflüchtet hatten. Am Ende der Belagerung des Montségur, 1244, hatten sich bei Nacht und Nebel vier Katharer von dort abgeseilt, um geheime Schriften, oder auch Kultgegenstände, in Sicherheit zu bringen. Jahrelang hatte die Inquisition nach diesem Schatz gesucht, und viele Unschuldige waren dabei zu Tode gekommen. Noch Jahrzehnte später hatte man keine Ruhe gegeben und – so hatte Bérenger geschrieben - eines Tages fünfhundert Katharer lebendig in einer Höhle in den Pyrenäen eingemauert. Doch sie hatten ihren Schatz nicht preisgegeben.
Und heute, siebenhundert Jahre danach ...
„Warum haben die Katharer sich nicht ernsthafter gewehrt?“ hatte ich Bérenger einmal gefragt. „Und weshalb bestiegen sie freiwillig den großen Scheiterhaufen am Fuße des Montségur? Sie hätten doch nur abschwören müssen!“
„Es war eine vertrackte Situation, Marie. Natürlich gab es Gegenwehr. Nur den parfaits selbst war Gewaltanwendung untersagt. Dennoch widersprach es ihrem Glauben, an dieser Welt des Teufels festzuhalten. Ihr Verlangen war, hinaufzusteigen zu ihrem guten Gott. Da kam manchen von ihnen das reinigende Feuer gerade recht.“
„Das ist zynisch.“
„Durchaus nicht, Marie. Ihre Sehnsucht nach dem allumfassenden Licht war größer, als du es dir vorstellen kannst. Dass aber die weltliche Macht – der König von Frankreich - der geistlichen einmütig zur Seite stand beim Aufspüren und Verbrennen der Ketzer, lag nicht nur daran, dass man Ketzerei allgemein als Staatsverbrechen ansah, sondern weil man ein Auge auf unser schönes Land geworfen hatte.“
Ich dachte an einen meiner letzten Besuche in der Sakristei, als ich zu meinem Erstaunen gelesen hatte: „Im MA hätte man B. u. H. als Ketzer verbrannt! Sie verweisen allen Ernstes auf den Koran, 4, 157.“
Sicherlich hatte Bérenger mit „MA“ das Mittelalter gemeint. Weshalb er jedoch Boudet und Hoffet, einzig weil sie sich mit dem Buch der Muselmanen beschäftigten, als Ketzer bezeichnete, hatte mich brennend interessiert. Mit was beschäftigten die Priester sich eigentlich?
„Und heute, wie sieht in der neueren Zeit mit Ketzern oder Andersdenkenden aus?“
„Nun, da gibt es vor allem die Freidenker“, hatte mir Bérenger erklärt (natürlich ohne auf B. und H. einzugehen), „die ihre Wurzeln im Altertum sehen, bei Sokrates, Demokrit und Epikur statt in der Heiligen Schrift. Giordano Bruno, der Mönch, war einer von ihnen. Er wurde übrigens auch verbrannt. Während der Revolution begannen dann viele Menschen, der Obrigkeit ´aufgezwungene Wahrheiten`, wie sie es nannten, zu verweigern. Du musst wissen, dass in der Revolution die Menschenrechte verkündet wurden.“
„Gibt es noch immer Freidenker in unserem Land?“ insistierte ich, in der Hoffnung, mit dieser Frage mehr Glück zu haben.
Bérenger nickte. „Einige meiner Freunde aus Paris sind freien Geistes, mehr oder weniger. Dann natürlich die Sozialisten – von denen ich niemand persönlich kenne –, allen voran Jean Jaurés“ (siedendheiß fiel mir das Plakat am Perron ein, das ich beschmiert hatte!), „Aristide Briand und Clémenceau; aber auch etliche Schriftsteller zählen sich dazu wie Romain Rolland oder Émile Zola, der im vorigen Jahr den Mut hatte, in der Tageszeitung L`Aurore einen offenen Brief an unseren Präsidenten zu veröffentlichen. ´Ich klage an`, hat er geschrieben und die Regierung wegen der Dreyfus-Verurteilung heftig angegriffen. Alfred Dreyfus, der erste Jude, der es geschafft hatte, sich in den Generalstab hochzuarbeiten – du wirst davon gehört haben - ist als Spion verurteilt und auf die Teufelsinsel verbannt worden. Allerdings erst“ – Bérenger zog bedeutungsvoll die Brauen hoch – „nachdem er sich weigerte, von der Pistole Gebrauch zu machen, die man ihm diskret auf den Tisch gelegt hat! Zola ist von Anfang an von Dreyfus` Unschuld überzeugt gewesen. Nach dem Erscheinen des Artikels – es wurden allein in Paris 200 000 Exemplare verkauft - hat man ihn zu einem Jahr Gefängnis verurteilt und aus der Ehrenlegion entfernt. Seine Anklage war dennoch von Erfolg gekrönt: der Prozess gegen Dreyfus findet seitdem in der Öffentlichkeit statt. Ich bin gespannt, wie die Sache ausgeht! Freidenker zu sein, meine liebe Marie, bedeutet also auch, den Finger in
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