Marie ... : Historischer Roman (German Edition)
dir immer nahegestanden, deshalb fühlst du ihren Stolz, der aus jeder Zeile ihres Briefes spricht. Um keinen Preis der Welt würde sie dir schreiben, dass ihr Mann ein Versager ist und die Familie am Hungertuch nagt.“
„ O je, meinst du, es steht wirklich so schlimm um sie?“
„Ja, das glaube ich wohl. Denn die Hochzeit ihrer Lieblingsnichte würde sich keine Frau entgehen lassen, wenn sie sich nicht wirklich in einer Notlage befände.“
„Aber da sie so stolz ist, wird sie mein Geld nicht annehmen, oder?“
Bérenger wanderte wieder einmal auf und ab. „Lass mich eine Nacht darüber schlafen, Marinette. Vielleicht habe ich eine Idee. Ich kenne da so einige Leute in Béziers ...“
Ja, in dieser Hinsicht konnte ich mich auf Bérenger stets verlassen. Christentum drückte sich für ihn darin aus, dass man sich mit aller Kraft um die Verzweifelten kümmerte, dabei aber gut achtgab, dass sie ihre Würde nicht verloren.
Bérenger schickte einem befreundeten Priester in Béziers eine Geldanweisung und eine Depesche folgenden Inhalts:
„ Lieber Kollege! Ich bitte Sie um einen großen Gefallen in einer äußerst delikaten Angelegenheit. Es handelt sich um Madame Louise Salasar, wohnhaft Rue de Pont vieux 13. Mir ist zu Ohren gekommen, dass die Familie Salasar in Not geraten ist, und ein Gemeindemitglied von mir möchte ihr helfen, ohne jedoch seinen Namen zu nennen. Bitte bringen Sie das Geld zu einem Ihnen bekannten zuverlässigen Advokaten, der die sofortige Auszahlung veranlassen kann. Begründet soll die Zahlung damit werden, dass Madame Louise Salasar durch eine Freundin ihrer verstorbenen Mutter eine Erbschaft gemacht hat. Die Dame wolle jedoch unter allen Umständen ungenannt bleiben ...“
Nur drei Tage vor Giselles und Alains Hochzeit traf ein weiterer Brief ein:
„Liebe Marie! Die geschäftliche Situation hat sich überraschend geändert. Mein Mann kann einen größeren Auftrag auf den nächsten Monat verschieben, so dass wir jetzt doch Zeit haben, einige Tage zu Euch zu kommen und Giselles Hochzeit zu feiern. Wir freuen uns sehr! Deine Louise“
Auch ich freute mich über alle Maßen, meine alte Freundin wiederzusehen.
Nach dem üppigen Festbankett, und als Louise und ihre Familie ausgiebig unsere neuen Bauten und die Gärten bewunderten hatten, nahm sie mich zur Seite und befragte mich nach Todesfällen in der Gegend.
Ich zuckte mit den Schultern: „Es ist meines Erachtens niemand darunter, dessen Angehörige einen Besuch von dir erwarten würden. Weshalb fragst du?“
Louise runzelte die Stirn, schwieg eine Weile, dann sagte sie leise: „Ach nur so, einfach aus Interesse.“ Sie sah mich dabei merkwürdig von der Seite an. „Mir scheint, du hast damals doch nicht geflunkert, Marie, als du mir erzählt hast, ihr hättet goldene Münzen entdeckt, du und dein Monsieur Saunière. Ich habe es dir nicht geglaubt, seinerzeit. Aber wie das hier heroben aussieht und wie du gekleidet bist, dein Schmuck ... O lá, lá!“
„Nun ja, du hast dich doch ganz offensichtlich auch neu eingekleidet, Louise“, erwiderte ich. „Und das herrliche Service, das du Giselle und Alain geschenkt hast, das war bestimmt nicht billig.“
„Ja“, sagte sie stolz, „ mein Mann ist sehr erfolgreich in Béziers.“
Ich lächelte sie an und nickte.
27
„Ach Faun, die Illusion entströmt den blauen Augen,
den kühlen, einer Tränenquelle gleich ...“
Stéphane Mallarmé , L´ après-midi d´un faune
Der Turm Magdala, den Boudet mit Vorliebe den „Turm der Uhr“ nennt, weil er wie eine Sonnenuhr ausgerichtet ist, wurde nach Bérengers Wünschen im neugotischen Stil erbaut. Beim Ausheben des Fundaments entdeckten Bérenger und mein Vater einen verschütteten Geheimgang, der – wie man vermutet – einst ins Tal hinuntergeführt hat. Bérengers Nachforschungen ergaben, dass es sich um den letzten Überrest der beiden alten westgotischen Zitadellen handelte, die im Jahr 1362 durch einen gewissen Grafen von Trastamarre geschliffen wurden. Eine Zeit, in der wahrscheinlich kein Mensch mehr im alten Rhedae anzutreffen war, denn ein Jahr zuvor hatte die Pest dort gewütet.
Man kann es nicht anders beschreiben: Bérengers Turm am Rande des Steilhangs wirkt romantisch, fast unwirklich, vor allem im Herbst, wenn die Nebel über den Berg ziehen. Von dort oben kann er das ganze Land beobachten. Eine schmale steinerne Wendeltreppe verbindet die beiden Stockwerke miteinander. Auf der Aussichtsplattform ist der Turm
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