Marie und die Meerjungfrau (Das Geheimnis der Zaubermuscheln)
kommen, wenn der Mond dunkel war. Und dieses Versprechen hat er auch gehalten. Egal wie weit er reiste, in seinem späteren Leben, in den mondlosen Nächten war er immer am Strand, damit die Meerjungfrau ihren geliebten Hund sehen konnte.”
Opa Donnersee lehnt sich zurück und ließ seine Worte wirken, während er Marie beobachtete. Das Mädchen schwieg und starrte mit offenem Mund auf das Bild.
„Und das ist noch nicht alles, Marie.”
Marie zuckte zusammen, als die tiefe Stimme sie aus ihren Gedanken riss. Sie schaute auf. Der alte Mann beugte sich tief zu dem Mädchen hinunter, das ihn voller Spannung anschaute.
„Siehst du die große weiße Muschel im Haarschmuck der kleinen Meerjungfrau?”, flüsterte Opa Donnersee und legte seine Stirn in noch tiefere Falten als üblich.
Marie schaute auf das Bild und nickte.
„Das ist eine ganz besondere Muschel.” Und nach einer bedeutungsvollen Pause ergänzte er mit leisen, aber deutlich ausgesprochenen Worten: „Sie kann dir deine Zukunft zeigen!”
„Meine Zukunft?”
„Ja, Marie, schau dir die Muschel auf dem Bild mal genauer an.”
Marie beugte sich über das kleine Bild, bis ihre Nase es fast berührte.
„Siehst du, wie sie fast durchsichtig leuchtet, und wie sie auf der Innenseite glänzt? Wie ein Spiegel glänzt sie, siehst du es?”
Marie hielt die Luft an und nickte. Das Bild der kleinen Meerjungfrau war so sorgfältig und detailreich gemalt, dass sie glaubte zu sehen, wie sich alles um sie herum in der großen, glänzenden Muschelfläche spiegelte.
„Ja, ich sehe es”, hauchte Marie. “Selbst die Sterne im Himmel spiegeln sich darin.”
„Die ganze Welt kann sich in dieser Muschel spiegeln, Marie”, raunte Opa Donnersee, „und wenn du die Muschel vor dich hältst und direkt hineinblickst, kannst du sehen, wo dich dein Weg hinführen wird, als würdest du durch ein Fenster schauen.”
„Einfach so?”
„Hoho, ganz so einfach ist die Zukunft leider nicht. Sie ist ständig im Wandel, mein Kind, denn sie hängt von vielen Entscheidungen ab, die noch nicht getroffen wurden. Man muss also sehr vorsichtig damit umgehen.”
Marie starrte mit offenem Mund auf das Bild, während Opa Donnersee lächelnd ergänzte:
„Im Volk der Meerjungfrauen gibt es drei dieser Muscheln. Mit der einen kann man in die Vergangenheit schauen, mit der Zweiten in die jeweilige Zukunft und mit der Dritten in die Gegenwart.” Zufrieden fuhr sich Opa Donnersee durch den wilden, weißen Bart.
„Aber die Gegenwart ist doch nichts Besonderes. Die kenne ich doch!”, warf Marie ein.
„Tatsächlich? Und was machen dann deine Eltern jetzt gerade in diesem Moment?”
Marie schaute ihn ungläubig an.
„Siehst du, Marie? Die dritte Muschel könnte dir das jetzt zeigen.”
„Und diese Meerjungfrau hatte also die Muschel, die in die Zukunft schauen kann?”
„Ja genau. Und darin hat sie sich am Strand tanzen sehen und, wer weiß”, er machte eine längere Pause, um flüsternd fortzufahren, „vielleicht hat sie auch den kleinen Hund gesehen, bevor sie ihn aus dem Meer gerettet hat. Und den Jungen.”
„Und was ist dann passiert?”, fragte Marie, ohne ihre Augen auch nur eine Sekunde von der kleinen Meerjungfrau abwenden zu können. Hatte sich ihr Haar auf dem Bild nicht gerade leicht bewegt? Hatte sie ihr nicht eben zaghaft zugelächelt? Marie presste kurz die Augen zusammen, bevor sie wieder hinschaute. Es war bestimmt nur Einbildung.
Opa Donnersee hatte sich gemütlich in seinen krächzenden Sessel zurückgelehnt und fuhr sich genüsslich mit der Hand durch den wuscheligen Bart, der dadurch allerdings kein bisschen weniger wuschelig wurde.
„Die Meerjungfrau war so glücklich, als der Junge ihr versprach, auf ihren kleinen Hund aufzupassen, dass sie die große, glänzende Muschel aus ihrem Kopfschmuck nahm und sie ihm gab.”
Opa Donnersee schaute aus dem Fenster und die Dünenlandschaft seines Gesichts lächelte.
„Ach, wie wunderbar! Weißt du, ob die Muschel dem Jungen seine Zukunft gezeigt hat — vielleicht funktioniert das ja nur bei Meerjungfrauen?”, fragte Marie nach einer Weile in die Stille.
„Oh ja, es funktioniert auch bei ganz normalen Menschen, Marie, und ich weiß, was der Junge gesehen hat. Genau so wie du, hatte er nämlich einen großen Traum: Er wollte Maler werden. Aber nicht irgendein Maler, nein, er wollte ein sehr guter Maler werden, einer der es schaffen würde, die Seele der Dinge zu malen. Das ist nämlich sehr schwer
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