Marienplatz de Compostela (German Edition)
Schutz erhob und das tat, was er am besten konnte – nichts. Er setzte sich weder zur Wehr noch versuchte er zu entkommen. Ein Feigling.
Siebl hatte das Wort kaum gedacht, da spürte er einen harten Schlag an den Rippen, begleitet von einem kurzen, stechenden Schmerz. Er taumelte und in kurzer Folge kamen weitere Einschläge. Schnell, gezielt und gekonnt. Seine Hände schlugen ins Leere und vor ihm stand sein Sohn. Geduckt, das Gesicht hinter den Fäusten in Deckung, die Augen schmal und kalt, nach dem nächsten Ziel suchend.
Siebl hob instinktiv die Arme, um den Kopf zu schützen, was den Körper freigab. Schläge prasselten gegen den Brustkorb und keuchend trieb ihn sein Sohn quer durch den Raum, auf den Tisch zu. Als Rudolf Siebl mit der Hüfte gegen die Tischplatte stieß, warf er sich verzweifelt nach vorne und umklammerte seinen Sohn, versuchte die Haare zu erwischen, zu kratzen, zu beißen.
Wie zwei wild gewordene Käfer, mit allen Extremitäten gegeneinanderschlagend, wälzten sie sich, spuckten, heulten, keuchten, quiekten und schrien.
Alles was jemals gewesen, war vergessen und jedes Ding, jeder Gedanke, der die beiden hätte einen können, war getilgt. Es gab nur noch Hass, wilden ungezügelten Hass aufeinander.
Siebl hatte ein Ohr seines Sohnes in die Hand bekommen und automatisch griffen die Finger in den Widerstand, der ihnen das Piercing bot.
Tobias Siebl schrie laut auf, spürte den zweiten Schmerz nicht, der entstand, als er sich aufrichtete und mit dem Kopf gegen die Tischplatte stieß. Am Hals und am Nacken fühlte er klebrige Wärme und in einem weiten Bereich um das Ohr ein hässliches Brennen. Mit einer eruptiven Bewegung seines gesamten Körpers schlug er die Faust in die Seite seines Vaters und spürte, wie dessen Leib darunter zuerst erzitterte, dann erschlaffte. Stöhnend und wild vor Schmerz suchte er einen weiteren Schlag zu setzen, doch traf er nur die Hüfte und Rudolf Siebl entkam, indem er sich hinter das Tischbein rollte, wo er japsend liegen blieb. Er lachte hustend.
Sein Sohn drückte die Schulter gegen das blutende Ohr und blieb für einige Momente wie paralysiert liegen. Ein Gedanke lähmte ihn: Wann war er seinem Vater jemals körperlich so nahe gekommen wie heute?
Er wischte die Betrachtung zur Seite und krallte beide Hände in die Unterschenkel seines Vater und nichts anderes fiel ihm ein, als zuzubeißen. Der Knochen unterhalb des Knies war zu groß und er glitt ab. Der feine Stoff der Hose milderte den Biss, doch Siebl schrie erschrocken auf und strampelte sich frei.
In beiden Körper tobte der Wille der Gewalt, doch die Kraft dafür war verbraucht.
»Was hast du mit ihr gemacht?«, zischte Siebl
»Hättest sie auch gerne gefickt, he!?«
Es war das auch , das Siebls Wut neu entfachte, doch es reichte nur noch zu einem müden Schlag ins Leere.
Zu dem Blut, mit dem beide inzwischen beschmiert waren, kam der Schweiß, der aus allen Poren drang und sich zu einer glitschigen, klebrigen Schicht vermischte.
Der Hass der beiden aufeinander war durch den Ausbruch in Gewalt nicht milder geworden. Das Gegenteil war der Fall: Er hatte vollständigen Besitz von ihnen ergriffen.
Alfons Zenner war nichts heilig. Für ihn gab es nur jene Bereiche, die vom Gesetz geschützt waren, und solche, die vom Gesetz verfolgt wurden. Er mochte die Nacht und war noch niemals darüber beleidigt gewesen, wenn ihn jemand Bulle genannt hatte. Während andere Kollegen alles taten, um den Nachtdiensten zu entkommen, war er einer, der ohne die erlebte Nacht gar nicht mehr sein konnte. Er liebte die breiten leeren Straßen, die ihn in diesem Zustand an Amerika erinnerten, wo er einige Male gewesen war – die Dachauer, Nymphenburger, die Verdi, die Pippinger und die Landshuter; sie gehörten ihm, wenn es dunkel war. Er hatte die roten Rücklichter einsamer Fahrzeuge im Blick, den Kaffee in den Nachttankstellen und im Morgengrauen den Duft der Bäckereien, die noch selbst buken und nicht nur verkauften; solche, wie es sie immer weniger gab. Dazu diese Geräuschlosigkeit – denn Stille war es nicht, und natürlich das Gefühl etwas zu bedeuten für die Menschen, die in ihren Betten lagen und schliefen.
Die Nachtdienste schienen ihm nichts anhaben zu können. Auch darum war er respektiert auf seiner Dienststelle. Er war das, was man eine Instanz nennen durfte; einer, von dem unzählige Schrullen und Geschichten erzählt wurden, obwohl keiner der Erzähler selbst dabei gewesen war. Manchmal
Weitere Kostenlose Bücher