Marienplatz de Compostela (German Edition)
»Miete … Standmiete am Straßenstrich, oder was!? Verschon mich damit, ich habe nicht den Bruchteil einer Sekunde Mitleid mit dir! Mit deinen Eltern und Geschwistern hattest du auch keines. Also lass das Gewinsel und verschwinde. Du kannst wiederkommen, wenn dir die Namen der Typen eingefallen sind. Und wenn es dir schlecht geht, weil du Stoff brauchst, oder du unter ner Brücke pennen musst, oder sonst was … es ist mir egal … verstehst du – egal!«
Die Frau hatte ihn böse angesehen und mit den oberen Zähnen die untere Lippe im Zaum gehalten, nicht dass ihr doch noch ein paar Flüche oder Beleidigungen herausgerutscht wären. Draußen hatte sie dann doch geweint, aber nicht wegen dem Bullen, sondern weil sie nicht wusste, wie sie es dem Schorschi erzählen sollte, dass sie kein Aktenzeichen hatte, wo der die Sachen doch schon anderweitig verplant hatte und sie nicht wusste, ob Schorschi so freundlich sein würde wie der Polizist.
Zenner hatte den Staatsanwalt angerufen, ihm danach einen kurzen Bericht gefaxt. Eine Seite. Auf der war kurz und knapp dargelegt, dass der Zeugin im Rahmen einer eingehenden Befragung Zweifel hinsichtlich ihrer Wahrnehmungstiefe gekommen waren und sie nochmals überlegen wolle, was genau geschehen sei. Das reichte, um das Verfahren gleich totzumachen. Dem Chef hatte er später am Gang berichtet, die Zeugin müsste sich über Details des Tathergangs noch klarer werden, insbesondere über die zwei männlichen Täter.
Erledigt! So machte man das.
Dann war er nach Hause gegangen und hatte sich wie immer in das Kellerabteil zurückgezogen, das schalldicht ausgekleidet war. Da konnte er tagsüber schlafen, ohne von den Zwillingen gestört zu werden, die zum Glück seines Daseins nachgekommen waren. Die zwei anderen waren schon fast erwachsen. Ausgeschlafen in den Nachtdienst kommen, das war notwendig. Wer die paar Stunden, die einem zwischen Früh- und Nachtdienst zur Verfügung standen, verblödelte, der würde es bereuen. Spätestens ab Mitternacht begann die Zeit der Reue.
Am allerschönsten war die Zeit kurz bevor die Stadt ihren Rhythmus wiederaufnahm, bevor die Morgendämmerung begann und die Geräusche lauter wurden. Nur eine kurze Zeitspanne. Doch in dieser holte Alfons Zenner das kleine weiße Ding aus der Tasche, setzte die Kopfhörer in die Ohren und ließ die Musik laufen: Bereichsstreife nannte er es; seine Kollegen sprachen von der Parkrunde, weil er dann zwischen Hirschgarten, Botanischem Garten und Nymphenburger Park herumkurvte, und alle wussten: Da durfte er nicht gestört werden.
Was sie nicht wussten, das betraf die Musik, die er dabei hörte. Gerüchte gingen darüber genug herum. Niemand konnte genauere Angaben machen, denn Zenner sprach nicht davon und Gerede war ihm eh gleich.
Vielleicht kannten die meisten Dvořák gar nicht. Symphonie Nummer eins, Rafael Kubelik, mit den Berlinern vor Jahrzehnten eingespielt und immer noch unerreicht. Das mit den Berlinern, das hatte ihn nicht sofort zugreifen lassen, als er oben beim Ludwig Beck stand und die CD in der Hand hielt. Er kam sich ein wenig komisch vor damit an die Kasse zu gehen. Berliner – wenn man doch Münchner in München war.
Am Morgen, im Streifenwagen, da lief nur der erste Satz der Ersten – dreizehn Minuten und vierunddreißig Sekunden. Das reichte aus, denn in diesen dreizehnvierundreißig steckte eine komplette Sinfonie mit einem bombastischen Finale. Und die paar Minuten musste der Funk eben auf ihn warten, musste München auf ihn warten. Er wartete auch oft, auf S-Bahnen, auf U-Bahnen, Straßenbahnen, Busse oder die Entscheidung eines Chefs. Oft länger als knappe vierzehn Minuten.
Er fuhr seine Runde, etwas schneller als erlaubt, aber mit viel Emotion. Dem Chef wäre es zu viel gewesen, an Emotion. Von fahren zu reden war weniger zutreffend, vielmehr versetzte ihn die Musik in einen Zustand des Schwebens; er schwebte vorbei am Schloss Nymphenburg, schwang unter der Donnersberger Brücke hindurch, wippte über die Gleise des Rangierbahnhofs und an den alten Kasernen zwischen Infanterie- und Schwere-Reiter-Straße vorbei.
Es war, als hätte dieser Antonin Dvořák diesen Satz nur für ihn geschrieben, damals bereits von einem Polizisten wissend, der ein paar Mal die Woche seine Stadt angemessen erfühlen wollte.
Verrückt, wie viele Arten von Gefühlen dieser Dvořák gekannt hatte, und wie mutig er einen hinführte, in die Sackgassen, vor die Abgründe, in die Nöte – und das
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