Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben
ich den Brief gefunden habe«, sagte sie, »was, wenn etwas darin steht, was ich lieber nicht wissen will? Aber jetzt weiß ich es nun mal, also, einen Teil davon, das wär ungefähr so, wie ein Buch wegzulegen, bevor man es ganz zu Ende gelesen hat. Wer macht das schon?«
Das klang pragmatisch, dachte Marilene, und vor allem klang es erwachsen, aber das war Antonia nicht. Niemand konnte ahnen, welche Konsequenzen sich ergeben würden, schlösse man die Wissenslücken. Und die waren beträchtlich. »Ich schlage vor, dass du noch mal drüber schläfst«, sagte sie laut. »Morgen entscheiden wir, was wir tun, okay?«
3
Totenschädel flogen durch die Luft, rasend schnell aufeinanderfolgend, eine Schneeballschlacht der makabren Art, und er hatte alle Mühe, sich rechtzeitig unter den Geschossen wegzuducken. Er sollte sich wehren, zurückschleudern, was ihm da entgegenprasselte, doch er hatte seine Handschuhe vergessen und mochte die Dinger nicht anfassen, zumal er drohende Blicke aus der ein oder andern Augenhöhle zu erkennen vermeinte. Der nächste traf. Igitt, Paul Zinkel schüttelte sich und schrie auf.
Sein eigener Schrei weckte ihn, der und ein gewaltiger Schmerz in seinem Rücken. Er drehte sich auf die Seite, was geschätzte fünf Minuten dauerte, weitere fünf, bis er sich überwinden konnte, die Unterschenkel aus dem Bett zu senken und sich gleichzeitig in eine sitzende Position hochzudrücken. Nichts davon ging ohne Zähneknirschen vonstatten, denn er wusste, ließe er zu, dass sein Mund sich öffnete, brächen markerschütternde Schreie aus ihm hervor, die die nähere Nachbarschaft auf den Plan rufen würden. Ein Hexenschuss im Schlaf: noch eine Geschichte, über die er besser einen gnädigen Mantel des Schweigens breitete.
Er ruhte sich für einen Moment aus, bevor er sich daranmachte, aufzustehen, und wünschte, er hätte eine Krücke, wenigstens einen Stock zur Hand. Sein Regenschirm, fiel ihm ein, müsste den Zweck erfüllen, wenn er es nur bis in den Flur schaffte. Er musste es dorthin schaffen, und zwar in absehbarer Zeit, sonst käme ein weiteres Malheur auf die geheim zu haltende Liste, und so stemmte er sich, ein echter Indianer, in eine standähnliche Position hoch. Echt war an ihm nur das Geheul.
Er mied den Blick in den Spiegel, der ihm ohnehin nur gezeigt hätte, wie frappierend zurzeit seine Ähnlichkeit mit den tierischen Verwandten war. Ein Königreich für eine Banane, dachte er spöttisch. Ob er überhaupt an etwas zu essen käme? Ein Fahrstuhl wäre hilfreich. Das Wichtigste zuerst, gemahnte er sich und schlurfte, gebeugt auf etwa neunzig Grad, auf jeden Fall weit entfernt vom aufrechten Gang, in den Flur, wo er sich den Schirm griff und erleichtert darauf stützte.
Die Tücke steckte natürlich im Objekt. »Made in China, oder was?«, fluchte er vernehmlich, als er der nun elliptischen Form desselben gewahr wurde. Ein Klingeln an der Tür schnitt ihm die auf der Zunge liegende Tirade ab. Hoffentlich nicht die Mädchen, dachte er, oder gar Judith. Er erwog, nicht zu öffnen, fürchtete jedoch, dass, wer immer es war, wiederkommen und schweres Gerät auffahren würde. Ergeben schleppte er sich, einen Meter pro Minute, zum Eingang.
»Was dauert das denn so ewig?« Enno Lübben musterte seine Erscheinung von Kopf bis Fuß, etwas wie Schadenfreude blitzte aus seinen Augen. »Hexenschuss?«, formulierte er das Offensichtliche.
»Hm«, sagte Zinkel.
»Ich hol Hilfe.«
»Danke, nein, das wird schon wieder«, wandte Zinkel ein, doch als er aufsah, war Lübben bereits verschwunden.
Er knallte die Tür zu, suchte die Toilette auf und putzte sich die Zähne. Alles Weitere wäre Leichenschändung, fand er. Es klingelte abermals. Nichts da, dachte er und machte sich auf den Weg zurück ins Bett, kein Frühstück heute und auch sonst nichts, nur schlafen, irgendwie den Schmerz wegschlafen.
Ein Schlüssel kratzte im Schloss, und schon stand Judith in der Tür, eine Gummimatte unter den Arm geklemmt.
»Dir ist schon klar, dass du mir nicht entkommen kannst?« Sie ließ den Schlüssel vor seiner Nase baumeln.
»Hm«, brummte er.
»Vertraust du mir?«
»Glaub nicht.«
»Na, macht nichts. Lass mich mal vorbei.« Sie ging voraus ins Schlafzimmer, rollte die Matte auf dem Boden aus und deutete mit einer Geste darauf, die vermutlich einladend wirken sollte.
»Niemals«, verweigerte er den Gehorsam, »zu tief, zu hart, zu alles.«
»Stell dich nicht so an«, schalt sie ihn, »runter mit
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