Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben
waren, sie war von vornherein dagegen gewesen, dass Antonia sich verzog, nur weil – Halt!, befahl sie sich, denk nicht daran, nicht jetzt. Sie musste an sich halten, nicht loszuschreien und Frank das verdammte Ei gegen den Kopf zu schleudern.
»Hat sie gesagt, warum?«, fragte Frank.
»Warum was?«
»Warum sie abgehauen ist, Dummchen.«
»Nein. Ist das jetzt wichtig?«
»Vielleicht hat sie endlich erkannt, dass Kathrin in einer anderen Welt lebt und kein Umgang für sie ist.« Frank widmete sich wieder seinem Ei.
»Kathrin ist ein liebes Mädchen«, wagte Lilian zu widersprechen.
»Die Verhältnisse, in denen sie lebt, sind alles andere als das. So etwas prägt auch das liebste Mädchen. Jetzt setz dich endlich hin und iss, verdirb uns nicht den Morgen. Antonia kommt schon zurück, spätestens, wenn sie Hunger hat. Sie ist schließlich kein kleines Kind mehr.«
Lilian setzte sich; essen konnte sie nicht. Angst tobte in ihrem Magen, dass sie vermeinte, sich übergeben zu müssen. Einen Unfall wird es nicht gegeben haben, überlegte sie, dann wäre sie benachrichtigt worden. Aber wo konnte Antonia sein? Sie hatte keine Freundin außer Kathrin. Es würde doch wohl kein Junge dahinterstecken? Nicht das, nicht jetzt schon, bat sie, sie war noch viel zu jung, um sich zu binden. Wie oft hatten sie darüber gesprochen, vielmehr sie hatte gesprochen, mit Engelszungen geradezu, und Antonia hatte zugehört. Hatte sie? Vielleicht waren all die mahnenden Worte an ihr abgeprallt, weil sie noch glaubte, Katastrophen stießen nur anderen zu, im Leben nicht ihr, ein durch nichts zu erschütternder Glaube, unverwundbar zu sein, bis ein einziger unvermeidlicher Augenblick sich gegen sie wendet und alles, alles auf den Kopf stellt.
Sie hatte wieder einmal versagt und es nicht geschafft, ihre Tochter davor zu bewahren. Ihre Worte waren zu blass, zu unpersönlich gewesen: Sie hätte ihr die Wahrheit sagen müssen. Über diesen einen Moment, der ein ganzes Leben bestimmen konnte. Sie schlug die Beine übereinander und merkte nicht, wie sie mit dem Fuß zu wippen begann und ihr gesamter Körper zappelte. Frank legte eine Hand auf ihr Knie und tätschelte es. Dankbar für die Geste, versuchte sie sich an einem kleinen Lächeln.
»Wir sollten die geschenkte Zeit für angenehmere Dinge nutzen, findest du nicht?«, sagte Frank und ließ seine Hand höherwandern.
Ein Schlüssel kratzte in der Tür. Antonia? Lilian schob seine Hand brüsk beiseite, sprang auf und lief in den Flur. »Kind, da bist du ja!«, rief sie und wusste nicht, ob sie lachen oder weinen oder schimpfen sollte, am liebsten alles auf einmal, also ließ sie es ganz bleiben und war stolz auf ihre Selbstbeherrschung, die eben noch beinahe zersprungen wäre.
»Ich hab mir solche Sorgen gemacht«, flüsterte sie und ließ ihren Kopf auf Antonias Schulter sinken. Seit wann nur war ihre Tochter größer als sie selbst?, wunderte sie sich, sie konnte doch kaum laufen, hatte gerade erst Rechnen gelernt und – und Lesen; Antonia war erwachsen, und sie hatte die Entwicklung vollauf verschlafen, hatte das unglaubliche Geschenk, das ihre Tochter trotz allem war, nie wirklich zu schätzen gewusst.
»Alles in Ordnung, Mama.« Antonia tätschelte ihr den Rücken. »Was ist denn los?«
»Kathrin hat angerufen. Wo warst du die ganze Nacht? Wieso bist du nicht nach Hause gekommen?«
»Hätte ich schon noch gemacht, ich musste bloß erst runterkommen. Also bin ich runter ans Wasser und hab mich auf eine Bank gesetzt. Dann ist eine Frau vorbeigekommen, die gedacht hat, ich wollte da übernachten. Sie wollte schon die Polizei rufen, das oder ich sollte mit zu ihr. Na ja, du hast doch nicht mit mir gerechnet, also bin ich mitgegangen. Die Frau ist Rechtsanwältin und …«, Antonia stockte, »vielleicht kann sie Kathrin helfen.«
Lilian argwöhnte, dass ihre Tochter längst nicht alles erzählte, doch sie insistierte nicht weiter, zumal nun Frank hinzukam.
»Was war denn schon wieder mit Kathrin?«, fragte er.
»Mit ihr war gar nichts. Außerdem hab ich versprochen, nicht drüber zu reden, also tu ich’s auch nicht.« Antonia hob den rechten Fuß, nur um ihn sachte wieder zu senken.
Das war neu, wunderte sich Lilian. Beim letzten Mal, als Antonia ihren Standpunkt hatte durchsetzen wollen, hatte sie heftig mit dem Fuß aufgestampft, allerdings schnell gemerkt, dass sie damit bei Frank erst recht auf Granit biss. Frank holte Luft für seine Erwiderung, und Lilian eilte zurück
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