Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben
schämt sie sich, das ist oft so bei Opfern von sexueller Gewalt: Sie geben sich mit die Schuld. Was ist denn mit den Eltern?«
Antonia winkte ab. »Die Mutter ist schon ewig weg, da war Kathrin erst fünf oder so. Als damals Christian die Biege gemacht hat, haben wir uns ausgemalt, wie es wäre, wenn ihr Vater und meine Mutter heiraten. Wir haben es sogar mal geschafft, dass die sich getroffen haben. Danach hat meine Mutter nur gesagt, dass er nicht der Richtige für sie wäre. Kathrin hat mir dann erzählt, dass sie ihren Vater überredet hat, sich schön anzuziehen, aber dass er nichts trinkt, das hatte sie nicht hingekriegt. Da hab ich erst verstanden, warum der immer so komisch war, wenn ich ihn mal gesehen hab.«
»Weißt du, dass es in Leer ein Frauenhaus gibt? Dorthin könnte Kathrin sich wenden.« Marilene suchte nach einer einfachen Lösung, wenigstens für Antonia; für die Freundin gab es keinen leichten Weg, und der schwierigste Teil der Strecke war der Hilferuf.
»Ich wollte ja auch, dass sie mitkommt, gestern, aber sie hat sich geweigert. Irgendwie hab ich mich dadurch total verraten gefühlt.«
»Das hat sie ganz bestimmt nicht so gemeint. Sie hat bloß Angst. Wahrscheinlich auch Angst um dich. Sprich mal in Ruhe mit ihr und sag ihr das mit dem Frauenhaus. Wenn sie nicht darauf eingeht, kriegst du sie vielleicht dazu, dass sie sich mit mir trifft, ganz unverbindlich.«
»Wow, das wär super!« Kurz blitzte Hoffnung in Antonias Augen auf, bevor der Kummer wieder Oberhand gewann. »Sie kann Sie nicht bezahlen. Und ich auch nicht«, fügte sie hinzu.
»Das lass mal meine Sorge sein«, entgegnete Marilene. »Wenn ich überhaupt etwas für dich oder euch tun kann, dann finden wir auch eine Möglichkeit. Es gibt zum Beispiel etwas, das sich Beratungskostenhilfe nennt, das könnten wir beantragen. Aber jetzt wird erst mal gefrühstückt, in Ordnung?«
»Okay …« Antonia dehnte das Wort zu ungefähr fünf Silben. Ihr Blick wanderte unstet über den Tisch, als wisse sie nicht recht etwas anzufangen mit dem, was dort stand. Erst als Marilene in ihr Brötchen biss, griff sie selbst zu.
»Darf ich Sie was fragen?«, sagte sie schließlich.
»Nur zu. Ich muss ja nicht antworten, wenn mir die Frage nicht gefällt.«
»Warum tun Sie das alles? Sich die Probleme von jemandem aufladen, den Sie nicht kennen?«
»Helfersyndrom«, Marilene grinste, »sagtest du das nicht gestern? Aber im Ernst, was hätte ich denn machen sollen? Zulassen, dass du ertrinkst? Die Polizei anrufen? Was hätte ich denen sagen sollen? Da sitzt ein Mädchen, das wirkt so traurig, dass ich mir Sorgen um sie mache? Vielleicht wären sie gekommen, aber sie hätten dich bestenfalls nach Hause verfrachtet und deiner Mutter gesagt, sie solle besser auf dich aufpassen. Das hätte keins deiner Probleme gelöst. Ich meine, ich weiß natürlich nicht, ob ich dir wirklich helfen kann, aber ich kann es doch wenigstens versuchen. Was ich nicht kann, ist einfach vorbeigehen.« Fluch oder Segen, dachte sie, das kam wohl ganz auf die Perspektive an, und manchmal lag beides sehr dicht beieinander. »Genau genommen«, fügte sie hinzu, »trample ich meistens mitten rein.«
Wie jetzt gerade, räumte sie ein; sie glaubte nicht an Schicksal, nicht mal an Zufall, und doch war sie schon wieder drauf und dran, sich einzulassen auf die familiären Dramen, die dem Kummer dieses Mädchens zugrunde liegen mochten. Dieser Mädchen, korrigierte sie sich und überlegte in einem raren Anflug von Selbstkritik, ob das, was sie für Hilfestellung hielt, nicht in Wahrheit Einmischung war in Dinge, die sie absolut nichts angingen. Ach was, besänftigte sie ihre Zweifel, was war schon dabei, wenn sie Antonia half, herauszufinden, wo ihr vermeintlicher Vater steckte und wer ihr wirklicher Vater war? Was war dabei, wenn sie Kathrin über die Wege aufklärte, ihrer persönlichen Hölle zu entkommen?
Es lag an den Kindern, dachte sie, immer war es das Schicksal der alleingelassenen Kinder, dem sie sich nicht entziehen konnte. Mit dem Ausleben des Mutterinstinkts einer Kinderlosen hatte das absolut nichts zu tun. Oder doch? Sie wischte ihre eigenen Einwände beiseite, letztlich war es zu spät, sich herauszuhalten. Letztlich war ihr Beruf genau das: die Beschäftigung mit den Widrigkeiten im Leben anderer. Das Einzige, woran es ihr ernsthaft mangelte, war die professionelle Distanz, und daran ließ sich ja wohl arbeiten, nahm sie sich wieder einmal vor.
Antonia schaute
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