Marionetten
legen wie ein Mann?
Worauf sich Melik, dessen Tränen mittlerweile auch fließen, seinerseits bemüßigt fühlt, Issa um Verzeihung zu bitten, ihn seiner ewigen Freundschaft zu versichern und ihm zum Beweis ebendieser Freundschaft den kostbaren Azan-Pager zu verehren, den er von seinem geliebten Onkel geschenkt bekommen hat: das ultimative Gerät für den Muslim von heute, das elektronisch die Gebetszeiten anzeigt.
»Nimm ihn, lieber Bruder. Er gehört dir, trag ihn immer bei dir. Er ist idiotensicher. Damit wirst du nie mehr ein Gebet verpassen.«
Und während er ihm vorführte, wie das Ding funktionierte – denn Technik war Issas Sache nicht –, stand Annabel an Meliks Platz neben dem Fenster und beobachtete den Lieferwagen für Tiefkühlkost, der drei Häuser weiter parkte und aus dem noch immer niemand ausgestiegen war. Weshalb sie sich, als sie schließlich auf die Straße traten, dann auch weder nach links noch nach rechts wandte, sondern Issa, vom Wagen aus deutlich zu erkennen, aufs Geratewohl über die Straße und in eine enge Gasse lenkte, die, wie es der Zufall wollte, in eine breite Parallelstraße mit Durchgangsverkehr und einer Bushaltestelle mündete. Auf den ersten Metern war Issa starr vor Angst, und Annabel mußte ihn am Ärmel mitziehen – nur am Ärmel, bloß nicht am Arm, nicht einmal durch den Stoff.
»Wissen Sie, wohin wir gehen, Annabel?«
»Natürlich.«
Aber wir müssen vorsichtig sein. Wir nehmen nicht den direkten Weg. Bis zur nächsten U-Bahn-Haltestelle sind es zehn Minuten zu Fuß.
»Während der Fahrt reden wir nicht miteinander, Issa. Wenn Sie angesprochen werden, zeigen Sie auf Ihren Mund und schütteln den Kopf.« Und als sie die Willfährigkeit sah, mit der er sich fügte, dachte sie: Ich bin auch nur einer von Anatolijs Mafiosi. Ein Fluchthelfer.
In der U-Bahn drängten sich die ausländischen Büroreinigungskräfte. Issa stellte sich gehorsam zwischen sie, den Kopf wie sie gesenkt, während Annabel in die schwarze Scheibe starrte und sein Spiegelbild beobachtete. Wir gehören nicht zusammen. Wir sind nur zwei Leute, die zufällig im selben Zug fahren, hier und im richtigen Leben. Was besser keiner von uns vergessen sollte. Bei jeder Haltestelle linste er zu ihr herüber, aber sie ignorierte ihn bis zur vierten. Vor dem U-Bahn-Aufgang wartete eine Reihe von Taxis. Annabel steuerte das vorderste an, stieg hinten ein und ließ die Tür offen. Doch zu ihrem Schrecken war er plötzlich verschwunden – nur um im nächsten Moment auf dem Beifahrersitz wieder aufzutauchen, vermutlich, um jeglichem Körperkontakt mit ihr vorzubeugen. Er hatte sich das Scheitelkäppchen in die Stirn geschoben. Was in dem Kopf unter dem Käppchen vorging, darüber konnte sie nur mutmaßen. Fünfhundert Meter vor ihrer Straße ließ sie den Fahrer an einer Kreuzung anhalten, und sie legten das letzte Stück wieder zu Fuß zurück. Noch ist es nicht zu spät, dachte sie, als die Brücke in Sicht kam und der Mut sie wieder verlassen wollte. Noch könnte ich einfach mit ihm über die Brücke gehen, ihn auf der Polizeiwache abliefern, mir den Dank der gesetzestreuen Bürger sichern und den Rest meiner Tage mit der Schande leben.
Annabels Mutter war Verfassungsrichterin, ihr Vater pensionierter Jurist im deutschen diplomatischen Dienst. Ihre Schwester Heidi war mit einem Generalstaatsanwalt verheiratet. Nur ihr geliebter älterer Bruder Hugo hatte es geschafft, aus der juristischen Spur auszuscheren, und Medizin studiert. Mittlerweile war er Facharzt für Psychiatrie, ein brillanter Kopf und ein Eigenbrötler, der es für sich in Anspruch nahm, der letzte waschechte Freudianer der Welt zu sein. ■ Daß sich Annabel, die Rebellin der Familie, der Juristerei nicht hatte entziehen können, stellte sie bis heute vor ein Rätsel. War sie ihren Eltern zuliebe Anwältin geworden? Das ganz bestimmt nicht. Vielleicht hatte sie geglaubt, wenn sie den gleichen Beruf wählte wie sie, könnte sie ihnen in ihrer eigenen Sprache begreiflich machen, wie anders sie war. Oder sie hatte gehofft, den Reichen und Sorglosen das Recht aus der Hand zu winden und es den Menschen zu bringen, die es am nötigsten brauchten. Falls ja, so hatten ihr die neunzehn Monate bei Fluchthafen gezeigt, wie sehr sie sich getäuscht hatte.
Während sie die erbärmlichen Scheinverhandlungen absaß, während sie mit zusammengebissenen Zähnen zuhörte, wie kleine Bürokraten, deren gesammelte Auslandserfahrung sich auf zwei Wochen Ibiza
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