Marionetten
beschränkte, die Schreckensgeschichten ihrer Mandanten in der Luft zerpflückten: während all dieser Zeit mußte etwas in ihr gewußt haben, daß eines Tages der Moment – der Mandant – kommen würde, für den sie sämtliche beruflichen und juristischen Prinzipien, die sie sich jemals widerstrebend zu eigen gemacht hatte, über Bord zu werfen bereit war.
Und der Tag war gekommen, der Mandant war da: Issa.
Nur, daß es vor Issa noch Magomed gegeben hatte, und Magomed war es, der dumme, vertrauensselige, mißhandelte, nicht besonders wahrheitsliebende Magomed, der sie gelehrt hatte: nie wieder.
Nie wieder die überstürzte Fahrt im Morgengrauen zum Flughafen, wo die Maschine nach Sankt Petersburg schon mit offener Tür auf der Startbahn wartete; nie wieder ein Mandant, der als verschnürtes Bündel die Flugzeugtreppe hinaufgeschoben wurde; nie wieder Hände – oder bildete sie sich die Hände nur ein, diese gefesselten Hände, die ihr ein letztes Mal durch das Kabinenfenster zuwinkten?
Darum sage ihr keiner, ihre Entscheidung für Issa sei spontan gefallen, aus einer plötzlichen Eingebung heraus. Die Entscheidung stand seit jenem Tag am Hamburger Flughafen, als Magomeds Schinderkarren in den tiefhängenden Wolken verschwunden war. Seit ihrem ersten Zusammentreffen mit Issa letzte Woche, als sie in Leylas Haus seine Geschichte aus ihm herausgeholt hatte, wußte sie: Er ist der, auf den ich seit Magomed gewartet habe.
* * *
Den Leitlinien des Familienforums folgend, hatte sie sich zunächst methodisch die Fakten vor Augen geführt:
Seitdem er den Fuß auf schwedischen Boden gesetzt hat, ist Issa nicht mehr zu retten.
Ihm steht kein Rechtsweg offen, der ihm mehr als den Hauch einer Chance auf Asyl bietet.
Die armen, mutigen Leute, die ihm Unterschlupf gewähren, bringen sich selbst in Gefahr. Er kann hier nicht bleiben.
Danach hatte sie sich die praktischen Probleme vorgenommen: Wie soll und kann die Volljuristin Annabel Richter mit Studium in Tübingen und Berlin unter den gegebenen Umständen ihre heilige Pflicht gegenüber ihrem Mandanten erfüllen?
Wie soll sie besagten Mandanten verstecken, unterbringen und ernähren – nachdem ein weiterer Leitsatz des Familienforums besagt, daß nur wenig tun zu können keine Entschuldigung dafür ist, gar nichts zu tun?
Ab Anwalt muß man kein Eisberg sein, Annabel, predigte ihr Vater immer: ausgerechnet er! Nur ist es unsere Aufgabe, uns unserer Gefühle bewußt zu werden und sie zu kontrollieren.
Ja, lieber Vater. Aber hast du schon einmal bedacht, daß du sie zerstörst, indem du sie kontrollierst? Wie oft können wir »es tut mir leid« sagen, bevor es uns nicht mehr leid tut?
Und was – mit Verlaub – meinst du genau mit kontrollieren? Meinst du damit, die richtigen juristischen Gründe zu finden, um das Falsche zu tun? Ist das nicht genau das, was unsere begnadeten deutschen Anwälte praktiziert haben, die ganzen zwölf Jahre des großen historischen Vakuums der Nazizeit hindurch, von dem bei unseren Beratungen im Familienforum aus irgendeinem Grund so selten die Rede ist? Tja, von heute an kontrolliere ich meine Gefühle.
Wie hast du mich immer gewarnt, wenn ich mich wieder einmal an dir versündigt hatte? Ich kann tun und lassen, was ich will, solange ich bereit bin, den Preis dafür zu bezahlen? Nun, liebster Vater, ich bin bereit. Ich werde den Preis bezahlen. Selbst wenn das heißt, daß ich dafür meine schöne, aber kurze Karriere opfern muß.
Denn wie es das gütige Schicksal wollte (falls man an derlei überhaupt glauben mochte], nannte sie momentan zwei Wohnungen ihr eigen: eine, aus der sie lieber heute als morgen ausgezogen wäre, und ein Schmuckstück am Hafen, das sie vor sechs Wochen vom letzten Geld ihrer geliebten Großmutter gekauft hatte und das noch mitten in der Renovierung steckte. Und als wäre das nicht genug, hatte ihr das Schicksal – oder Schuldgefühle oder unversehens aufwallendes Mitleid; es näher auszuloten fehlte ihr die Zeit – auch noch Geld in die Hände gespielt. Brues Geld. Und so mußte sie sich nicht mehr mit einem Notfallplan begnügen, einem kurzfristigen Plan von beschränkter Durchführbarkeit, nein, dank Brues großzügiger Spende konnte ein längerfristiger Plan in Kraft treten: einer, der ihr die Zeit verschaffte, nach Lösungen zu suchen, einer, der, wenn sie ihn mit Hugos Hilfe klug in die Tat umsetzte, Issa nicht nur vor der Entdeckung durch seine Verfolger bewahren, sondern ihn auch auf den Weg
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