Marionetten
geschlungen. Dann stieß seine Hand herab, machte den Zug, und in der nächsten Sekunde war er aufgesprungen und hüpfte und tänzelte bis ans andere Ende des Lofts, wo er seine Flieger losschickte und zu den Klängen Tschaikowskis Pirouetten drehte, während sie über dem Gegenzug brütete. Musik, so hatte er ihr versichert, verstieß nicht gegen die Vorschriften des Islam, solange sie nicht die Gebete störte. Manchmal klangen ihr seine religiösen Verlautbarungen mehr nach Allgemeinplätzen als nach echter Überzeugung.
»Ab morgen will ich Sie woanders unterbringen, Issa«, eröffnete sie ihm in einem dieser Momente der Leichtigkeit. »Wo Sie es bequemer haben und wo Sie ordentlich betreut werden. Gute Ärzte, gutes Essen, all solch dekadenter westlicher Luxus.«
Die Musik war verstummt, das Scharren seiner Schritte ebenfalls.
»Um mich zu verstecken, Annabel?«
»Für kurze Zeit, ja.«
»Werden Sie auch dort sein?« Seine Hand tastete schon wieder nach dem Goldkettchen.
»Ich komme Sie besuchen. Oft. Ich bringe Sie hin, und ich besuche Sie, sooft ich kann. Es ist nicht sehr weit weg. Zwei Stunden mit dem Zug« – ganz beiläufig, wie geplant.
»Werden Leyla und Melik mich besuchen?«
»Wohl eher nicht. Erst wieder, wenn Sie legal hier sind.«
»Ist das ein Gefängnis, dieser Ort, an dem Sie mich verstecken wollen, Annabel?«
»Nein, es ist kein Gefängnis!« Sie mußte sich beherrschen. »Es ist ein Ort, wo Sie ausruhen können. Eine Art« – sie hatte das Wort vermeiden wollen, aber nun sagte sie es doch »es ist eine Spezialklinik, wo Sie wieder zu Kräften kommen können, während wir auf Mr. Brue warten.«
»Spezialklinik?«
»Eine Privatklinik. Sündhaft teuer, aber das kommt daher, daß sie so gut ist. Darum müssen wir uns auch noch mal über das Geld unterhalten, das Mr. Brue für Sie verwaltet. Mr. Brue hat uns netterweise einen Betrag vorgestreckt, damit wir Sie dort unterbringen können. Auch deshalb ist es dringend nötig, daß Sie Ihr Erbe antreten. Damit Sie Mr. Brue sein Geld zurückzahlen können.«
»Eine KGB-Klinik?«
»Issa, hier gibt es keinen KGB!«
Sie verfluchte sich für ihre Unbedachtheit. Klinik klang noch schlimmer als Gefängnis für ihn.
Zeit für seine Gebete. Sie zog sich in die Küche zurück. Als sie sich wieder herauswagte, hockte er an seinem gewohnten Platz auf dem Fenstersims.
»Hat Ihre Mutter Sie singen gelehrt, Annabel?« fragte er in gedankenvollem Ton.
»Sie hat mich mit in die Kirche genommen, als ich klein war. Aber mich das Singen gelehrt, nein. Niemand hat mich so richtig das Singen gelehrt. Aber ich glaube auch nicht, daß jemand das könnte. Selbst die größten Lehrer nicht.«
»Mir genügt es, wenn ich Sie sprechen höre. Ist Ihre Mutter katholisch, Annabel?«
»Evangelisch. Eine Christin, aber keine Katholikin.«
»Sind Sie auch evangelisch, Annabel?«
»Ich bin evangelisch erzogen worden.«
»Beten Sie zu Jesus, Annabel?«
»Nicht mehr.«
»Zu dem einen Gott?«
Sie ertrug es nicht mehr. »Issa, hören Sie mir zu.«
»Ich höre Ihnen doch zu, Annabel.«
»Das Problem geht nicht weg, nur weil wir es totschweigen. Es ist eine gute Klinik. In dieser guten Klinik sind Sie in Sicherheit. Damit Sie dort bleiben können, müssen wir Ihr Geld haben. Und dafür müssen Sie unbedingt Ihr Erbe antreten. Das sage ich Ihnen als Ihre Anwältin. Wenn Sie es nicht antreten, können Sie nicht Medizin studieren, weder hier noch irgendwo sonst auf der Welt. Sie können gar nichts aus Ihrem Leben machen!«
»Darüber entscheidet Gott. Es wird SEIN Wille sein.«
»Nein! Es ist Ihr Wille. Sie können beten, "soviel Sie wollen, die Entscheidung müssen Sie selbst treffen.«
Konnte nichts ihn umstimmen? Anscheinend nicht.
»Sie sind eine Frau, Annabel. Sie denken nicht rational. Mr. Tommy Brue liebt sein Geld. Wenn ich ihm sage, daß er es behalten darf, wird er mir dankbar sein und mir weiterhin helfen. Wenn ich ihm das Geld wegnehme, wird er mir nicht mehr helfen wollen, er wird böse auf mich sein. Das ist die Logik seiner Position. Mir kommt diese Logik ebenfalls entgegen, weil das Geld schmutzig ist und ich es ablehne, mir die Hände damit zu beflecken. Oder möchten Sie das Geld für sich selber haben?«
»Reden Sie kein albernes Zeug!«
»Dann haben wir keine Verwendung dafür. Sie wollen es ebensowenig wie ich. Sie sind noch nicht bereit, die Gegenwart Gottes in Ihrem Leben zu akzeptieren, aber Sie denken moralisch. Das verheißt Gutes
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