Marissa Blumenthal 02 - Trauma
eine Frage Tristans. »Schon lange bevor es Hongkong gab, war Aberdeen das Zentrum des Schmuggels und der Piraterie. Natürlich hieß es damals noch nicht Aberdeen.«
In der Nähe der Ap-Lei-Chou-Brücke fuhr der führende Mercedes an eine Anlegestelle von Sampans. Mr. Yips Gefolgsmann stieg aus. Bentley fuhr auf den Parkplatz. Als Marissa, Tristan und Bentley auf den Kai kamen, hatte der Mann einen Motorsampan besorgt. Der schwache Motor tuckerte und stieß schwarze Rauchwolken aus dem Auspuff.
Zusammen stiegen sie an Bord. Der Sampanführer legte ab, und sie steuerten auf das trübe Wasser hinaus.
»Hoffentlich kentert das Boot nicht«, sagte Tristan. »Wenn wir in diesen Drecktümpel fallen, holen wir uns alle den Tod.«
Gerade in diesem Augenblick sahen sie eine Horde kleiner Kinder von einer in der Nähe liegenden Dschunke ins Wasser springen. Dort tollten sie herum und schrien vor Vergnügen.
»Meine Güte«, sagte Tristan. »Diese Kinder müssen ja ein unwahrscheinliches Immunsystem haben!«
»Was sind das für Menschen?« fragte Marissa. Aus der Nähe staunte sie noch mehr über die schwimmende Stadt. Ganze Familien waren zu sehen, und in der Takelage hingen Kleidungsstücke zum Trocknen.
»Hauptsächlich Tanka«, sagte Bentley mit einiger Geringschätzung.
»Ihre Vorfahren haben schon seit Jahrhunderten auf dem Meer gelebt.«
»Ich nehme an, daß Sie kein Tanka sind«, sagte Tristan.
Bentley lachte, als hätte Tristan ihn mit einer Rasse von Untermenschen verglichen. »Ich bin Kantonese«, sagte er stolz.
»Höre ich da ein gewisses Vorurteil aus dem Reich des Himmels?« sagte Tristan spöttisch.
Mr. Yips Mann wies den Sampanführer zu einer Reihe von Dschunken, die längsseits eines größeren Schiffes lagen. Der Sampan hielt, und sie befanden sich vor einer Luke etwa in Brusthöhe. Plötzlich erschien dort ein kräftig gebauter Chinese und sah böse auf sie herunter. Er hatte einen zottigen Ziegenbart und einen altertümlichen Zopf. Bekleidet war er mit einer Steppweste und kurzen, weiten Hosen, die ihm nur bis zu den Waden reichten. An den Füßen trug er Lederriemen.
Die Hände in die Hüften gestemmt, breitbeinig dastehend, bot er einen eindrucksvollen Anblick. Mit tiefer, kratziger Stimme redete er aufgeregt chinesisch los. Bentley sagte allerdings, er spreche Tanka.
Mr. Yips Gefolgsmann begann ein erregtes Gespräch mit dem kräftigen Mann. Beide Parteien schienen wütend zu sein. Marissa und Tristan wurden nervös. Mitten in dem Streitgespräch erschien ein ungefähr dreijähriges Kind mit großen Augen im Puppengesicht und schaute zwischen den stämmigen Beinen seines Vaters auf die Fremden hinunter.
»Sie haben eine Meinungsverschiedenheit«, sagte Bentley. »Es geht um Geld. Uns betrifft es nicht.«
Marissa und Tristan waren erleichtert. Sie benutzten die Gelegenheit, sich das Boot des Kapitäns anzusehen. Es war etwa zwölf Meter lang und lag auf einem wohl fünf Meter langen Kiel. Gebaut war es aus mit Öl getränktem tropischen Hartholz und hatte die Farbe von Honig. Es hatte drei Decks und eine Kabine am Heck. Mittschiffs, aber etwas zum Bug hin erhob sich der ungefähr sechs Meter hohe Mast.
Plötzlich wandte sich der Kapitän an Marissa und Tristan. Er zeigte auf sie und sprach in ärgerlich klingenden gutturalen Lauten.
»Okay«, sagte Bentley. »Wir können an Bord gehen.«
»Sie können an Bord gehen«, sagte Marissa. Sie sah in die wilden Augen des Kapitäns, der sie unverwandt anstarrte.
»Bitte«, sagte Bentley. »Wenn Sie nicht an Bord gehen, ist er beleidigt. Er hat Sie eingeladen.«
Unsicher schaute Marissa auf Tristan. Der lachte, obgleich ihm auch nicht wohl in seiner Haut war. »Nun, meine Liebe«, sagte er,
»gehst du, oder gehst du nicht?«
»Hilf mir rauf!« sagte Marissa.
Sobald Marissa, Tristan und Bentley an Bord waren, tuckerte der Sampan los. Die unerwartete Abfahrt beunruhigte Marissa.
»Wie kommen wir denn zurück?« fragte sie.
»Keine Sorge«, sagte Bentley. »Der Sampan kommt für uns wieder her. Der andere Kerl holt nur das Geld, das er dem Kapitän geben soll.«
Sie folgten dem Kapitän durch einen Raum, der mit der Schiffsladung und Einrichtungsgegenständen der Familie vollgestellt war. In einer Ecke wurde gerade ein Propangasherd angezündet. Oben drauf stand ein köchelnder Kessel.
Der Kapitän führte sie aufs Vorderdeck. Von dort ging es über eine Leiter aufs Hauptdeck.
Oben nahmen sie auf Bambusmatten Platz. »Der Kapitän
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