Markus, glaubst du an den lieben Gott? (German Edition)
große Sippe dufte. Für jeden ist etwas dabei! Meine große Schwester Sabine ist derart aufgeschlossen und lieb, dass sie mir manchmal vorkommt, als wäre sie von einem anderen Stern. Sie assimiliert Kultur, als gälte es, ein leeres Paralleluniversum zu füllen. Nadja, genannt Nadi, ist umschwärmt von männlichen Verehrern, und ich versuche, mir von ihrer Grazie und ihrem Anmut etwas abzugucken. Sie transformiert Kultur in Schönheit, während die großen Schwestern meines Vaters, Silva und Gerda, die Schönheit wieder zurück in Kultur verwandeln. Silva und Gerda sind Monde, die den Salzburger Clan umkreisen. Ihre eigenen Stärken liegen in der Betrachtung und dem Weitervermitteln der philharmonischen Energie meines Vaters. Silva ist stark in ihrer eigenen Bildung und Musikalität. Und Gerda ist ein Wunder an Etikette, Hofhalten und Wertschätzung. Ich schaue sie an, und schon muss ich gerade stehen. Ich spüre ihre Erwartungshaltungen und Forderungen. „Schau auf deinen Vater und eifere ihm nach.“
Meine Jugend verweigert sich vorsichtig. Als ich Tante Gerda und ihren lieben Mann, Onkel Manfred, als Erwachsener besser verstehen lerne, weiß ich ihre Liebe zu schätzen. „Wir versuchen nur, so viel Schönheit wie möglich zu bewahren und weiterzugeben!“ Neben dem traurigen Onkel Ernst, den ich nicht zu durchdringen vermag, ist Onkel Wilfried ein wahrer Sonnenschein. Er ist der älteste Bruder meines Vaters und wird dieser Rolle voll gerecht. Mit seiner erfrischenden Art lockert er die Stimmung oft angenehm auf. „Noch ein Liedchen!“
Und ich bewundere meine liebe Mutter, die ihrem Heinrich den Rücken stärkt, dafür ist sie für mich auch immer die Schönste. Wie schwer für meinen Vater und die anderen Philharmoniker die langen Opernabende vor dem sehr elitären Osterpublikum sind, lässt sich keiner der Musiker anmerken. Das Gesamtkonzept unter Karajan als Chefdirigent stimmt.
Mir ist vor allem anderen die Matthäus-Passion mit ihrer andächtigen Stimmung in Erinnerung geblieben. Sie war für mich ein Anker der Ruhe. Bei all dem Prunk und der Aufregung rund um die Festspiele konnte ich manches Jahr bei dieser Aufführung innehalten. Die göttliche Musik von Bach hat meine kindliche Entwicklung tief geprägt. Der Anblick von Leiden löst bei mir Ernsthaftigkeit und Kreativität aus. Ich gewöhne mir an, genauer hinzugucken.
„Och, Papa! Lächeln!“ Julius ist wieder da. Ich bringe ihn zur Schule. „Okay, ich erzähle dir eine Geschichte aus Salzburg.“ Mein Sohnemann nimmt Anlauf, dreht sich und läuft das nächste Stück des Weges rückwärts vor mir her. Er spürt, dass ich mich an meine Kindheit zurückerinnere. „Es war Ostern!“ Julius bleibt auf Kurs. „Alles war geschmückt, und die Familie war glücklich. Mein Vater wollte sein Mittagsschläfchen halten, fand aber keine Ruhe. Stattdessen suchte er seine Noten und wurde sichtlich unruhig. Während die Familie bei österlichem Kaffee und Kuchen saß, kam er auf die Terrasse gestürmt und hauchte meiner lieben Mutter ins Ohr: ‚Meine Noten sind weg!‘ Große Aufregung! Nach langem Hin und Her fanden sie sich im Cellokasten wieder. ‚Wer hat die denn da rein getan, Uschi?‘ Die Stimmung war leicht gedämpft, irgendwie tat es allen leid – auch meinem Vater. Er konnte aber nicht wirklich über seinen Schatten springen, und so sprang ich ein. Ich platzierte mich in der Mitte der Terrasse und spielte die ganze Szene von eben noch einmal nach. Der Erfolg war durchschlagend, alle konnten lachen, und als ich mich quasi zur Krönung der Vorstellung auf einen Stuhl stellte und den Dirigenten Karajan mimte, belohnte mich mein Vater mit einem glücklichen und erleichterten Kuss. Mein Humor kann Konflikte lösen, das weiß ich seitdem. Viel Spaß in der Schule, Julius!“ „Geht doch, Papa!“ Und schon ist er verschwunden.
Ostern in Salzburg bedeutete für mich zwar schulfrei, lernen konnte ich trotzdem viel. Ich durfte mit zu den Proben, und manches Konzert habe ich gleich mehrmals gehört. So wie die Matthäus-Passion. Da holte ich mir Kraft. Ich erlebte die Resonanz, die mich mein Leben lang begleiten wird. Bach nutzt eine doppelte Anlage von Chor und Orchester, die miteinander Dialoge führen. Die Resonanz, die entstand, speicherte ich ab.
„Lieber Gott, bitte lass mich nicht wütend werden.“ Wenn meine Bitte erhört wird, bedanke ich mich. Manchmal vergesse ich zu danken. Das tut weh. Das andere Gefühl breitet sich sodann aus. Es
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