Marlene Suson 1
sie wohl beobachten könnte?
Er stützte sich auf die Ellbogen und suchte die hügelige Umge- bung mit den Blicken ab. Plötzlich blitzte in der Sonne etwas auf.
Während er noch hinschaute, bewegte das Ding sich. Jerome sah genauer hin und versuchte zu erkennen, was es wohl sein könnte. Es war lang und dünn wie ein Stock, doch ein Stock würde im Sonnenlicht nicht aufblitzen. Dann entdeckte er plötzlich einen Mann, der den Stock hielt.
Im selben Augenblick begriff er, was es war: ein Gewehrlauf.
Und er zielte auf Rachel.
Im nächsten Moment war Jerome auf den Beinen. Er stieß sich vom Ufer ab, warf sich über Rachel und riß sie mit sich ins Wasser. Der Knall eines Schusses zerriß die Stille des Tals.
Das Geschoß pfiff dicht über Jeromes Kopf hinweg, und im nächsten Moment spritzte das Wasser ein paar Meter vor ihnen hoch auf. Hätte Jerome Rachel nicht hinuntergerissen, dann wäre sie mit Sicherheit getroffen worden.
Als er aufschaute, sah er gerade noch einen stämmigen Mann hinter dem Felsen hervorschnellen. Mit dem Gewehr in der Hand rannte er über den Hügelkamm, ohne noch einen Blick zurück- zuwerfen.
Jerome richtete sich auf den schlüpfrigen Kieseln des Baches auf und zog Rachel aus dem Wasser. Noch während er das tat, hörte er Huf schlag. Der Mordbube floh offenbar Hals über Kopf.
Rachel spuckte und würgte das Wasser aus, das sie geschluckt hatte. Als sie wieder sprechen konnte, sah sie Jerome an, als zwei- felte sie an seinem Verstand. „Was in aller Welt sollte das?‚
„Dein Leben retten.‚
„Tatsächlich? Ich dachte eher, du wolltest mich umbringen.‚
„Hast du den Schuß nicht gehört, als ich dich ins Wasser stieß?‚
Mit offenem Mund starrte sie ihn an. „Ich habe ein Geräusch gehört, aber das kann doch kein Schuß gewesen sein. Du mußt dich irren.‚
„Ich wünschte zu Gott, es wäre so.‚
Jerome trug sie aus dem Wasser bis zu der Erle und legte sie dort auf eine Decke.
In diesem Augenblick gestand er sich endlich ein, daß er Ra- chel liebte.
26. KAPITEL
„Der Bastard ist wie vom Erdboden verschwunden‚, sagte Jerome zu Morgan. „Er hat sich offensichtlich aus dem Staub gemacht.‚
Die beiden Brüder saßen in der Bibliothek von Royal Elms und sprachen über den Mann, der vor zwei Tagen auf Rachel geschos- sen hatte.
„Wenn er das nicht getan hätte, hätten die Leute ihn inzwischen in der Luft zerrissen‚, sagte Morgan grimmig. Das entsprach der Wahrheit. Es hatte Jerome überrascht, wieviel Aufregung und Zorn der Anschlag auf seine Frau erregt hatte. Die Nachricht hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet, und zahllose Pächter hatten sich freiwillig gemeldet, um die ganze Nachbarschaft abzusuchen.
„Die Leute lieben deine Frau‚, sagte Morgan warm.
Ja, das taten sie wirklich. Es hatte Jerome zutiefst berührt, in welch kurzer Zeit Rachel die Herzen aller gewonnen hatte. Sie hatte sich als genau die gütige, freundliche Frau erwiesen, die er sich immer gewünscht hatte. Der Gedanke, sie durch einen Mör- der zu verlieren, erschreckte ihn bis ins Mark.
Morgan rieb sich mit der Hand über den Nacken. „Sie sind ganz aus dem Häuschen darüber, daß jemand Rachel nach dem Leben trachtet.‚
„Ich wünschte, sie würde den Anschlag wenigstens ernst neh- men‚, sagte Jerome finster. „Sie hält die Sache immer noch für ein Versehen, was immer ich auch sage. Als wenn es ein Zufall sein könnte, daß innerhalb dreier Monate zweimal auf sie geschossen wird. Sie kann einfach nicht glauben, daß jemand sie umbrin- gen will.‚
„Hast du ihr noch immer nichts von den Kätzchen er- zählt?‚
„Nein. Ich weiß, ich sollte es tun, aber sie wird so traurig sein, wenn sie davon erfährt.‚ Schon der Gedanke drehte ihm das Herz um. „Allerdings, wenn ich bedenke, wie sie auf die Schüsse reagiert hat, wird sie vermutlich auch nicht glauben,
daß die Milch, die die Kätzchen umgebracht hat, für sie be- stimmt war.‚
Morgan stand auf und ging zu einem Mahagonitisch, auf dem eine Karaffe mit Cognac stand. „Ich nehme an, du hast ihr auch verschwiegen, daß wir George verdächtigen.‚
„Wenn sie nicht einmal nach diesem Zwischenfall glaubt, daß die Kugel ihr gegolten hat, wird sie erst recht nicht glauben, daß ihr Bruder dafür verantwortlich sein könnte. Sie hängt sehr an ihm.‚
„Da könntest du recht haben‚, gab Morgan zu. Er hielt die Karaffe hoch. „Möchtest du auch einen?‚
Jerome nickte zerstreut, während er sich den Kopf
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