Marlene Suson 1
herausgefunden hatte, wo genau Gentleman Jack Fletcher über- fallen hatte, waren er und Jerome hingeritten.
Was sie dort im Unterholz fanden, hatte Jerome zu Tode er-
schreckt. Der feuchte Boden zeigte deutliche Spuren, die vermu- ten ließen, daß ein Mann auf allen vieren dort entlanggekrochen war. Dann entdeckten sie die Fußspuren zweier weiterer Männer, die den Verletzten offenbar aufgehoben und weggetragen hatten. Jetzt war Jerome sicher, daß sein Bruder tatsächlich angeschos- sen worden war. Nur wußte er nicht, wie schwer die Verletzungen waren.
Jerome und Ferris hatten sich in der Umgebung umgeschaut und nach einer verlassenen Hütte gesucht, in die Morgans Helfer ihn womöglich gebracht hatten. Doch alle Hütten waren bewohnt. Offenbar wurde er von jemandem versteckt.
Oder sie hatten ihn schon begraben.
Doch Jerome war sicher, daß dies nicht der Fall war. Ferris war gestern abend wieder in das Wirtshaus gegangen. Wenn der all- seits so verehrte Straßenräuber getötet worden wäre, dann wäre das mit Sicherheit in aller Munde gewesen.
Nachdem die Paxtons sich von Jerome verabschiedet hatten, verließen sie das Frühstückszimmer. Sie und ihre Kinder, Elea- nor und Toby, wollten an diesem Morgen abreisen. Alfred Win- gate begleitete sie aus dem Zimmer, doch Sophia bleib bei Je- rome am Tisch sitzen. Er hatte nicht die geringste Lust, mit So- phia allein zu bleiben, und so beschloß er, sein Frühstück abzu- kürzen.
„Tante Sophia, ist die Post schon gekommen?‚
Jerome erhob sich automatisch, als er Rachels Stimme hörte, und schaute zur Tür. Sie wirkte erschöpft und hatte tiefe Ringe unter den Augen. Sie sah aus, als hätte sie die ganze Nacht nicht geschlafen.
„Nein‚, antwortete Sophia. „Der Postbote hat sich wohl ver- spätet.‚
„Ich habe einen Brief für ihn, wenn er kommt‚, sagte Rachel und reichte ihrer Tante den Umschlag.
Jerome war so besorgt um Rachel, daß er seinen Vorsatz völlig vergaß. „Fühlen Sie sich nicht gut?‚
Sie mied seinen Blick. „Ich habe schlecht geschlafen.‚
Ihre Tante las die Adresse, die auf Rachels Brief stand. „Schon wieder ein Sendschreiben an George! Du überschwemmst ihn ja regelrecht mit Briefen.‚
Wer, zur Hölle, ist George? Jerome begriff gar nicht, weshalb ihn der Gedanke, daß Rachel ihm schrieb – noch dazu so häufig – dermaßen störte.
Sophia wandte sich dem Herzog zu. „Ich kümmere mich um die gesamte Post auf Wingate Hall. Falls Sie einen Brief zu besorgen haben, können Sie ihn mir geben. Ich sehe schon zu, daß er auf den Weg kommt.‚
„Ich glaube kaum, daß sich die Notwendigkeit ergeben wird.‚
Kerlan, der Butler, erschien, um Sophia mitzuteilen, daß die Post gekommen war. „Soll etwas mit?‚
„Ja‚, sagte sie, stand auf und folgte Kerlan aus dem Zimmer, den Brief ihrer Nichte in der Hand.
Jerome trat zu Rachel. „Sie sehen wirklich mitgenommen aus. Sie täten besser daran, nachts zu schlafen, als aufzusitzen und Briefe an Ihren Verehrer zu schreiben.‚
„Verehrer?‚ fragt sie verdutzt.
„George.‚
„Er ist mein Bruder!‚
Jerome atmete tief durch. „Warum bombardieren Sie ihn mit Briefen?‚
Sie hob den müden Blick. „Ich will, daß er heimkommt und die Leitung von Wingate Hall übernimmt.‚
„Wo ist er denn?‚
„Er ist Captain bei der Armee, stationiert in den amerikani- schen Kolonien. Ich habe ihm seit Stephens Verschwinden immer wieder geschrieben und ihm geschildert, was Sophia hier anstellt. Trotzdem weigert er sich, zurückzukommen.‚
Rachel wirkte so unglücklich, daß Jerome sie am liebsten in die Arme genommen und getröstet hätte. „Welchen Grund gibt er für seine Weigerung an?‚
„Er müßte seinen Abschied nehmen, und das will er nicht‚, sagte Rachel seufzend.
„Ist er so gern beim Militär?‚
„Ja, leider. Papa war dagegen, aber George hat keine Ruhe ge- geben. Schließlich gab Vater nach.‚
„Haben Sie ihm erklärt, was Sophia tut?‚
„Immer wieder.‚
Im stillen verfluchte Jerome beide Brüder, weil sie ihre Schwe- ster in diese unerfreuliche Lage gebracht hatten. Er kannte George nicht, vermutete jedoch, daß der jüngere Bruder genauso verantwortungslos sein mußte wie Stephen. Sonst wäre er längst nach Haus gekommen.
Als Jerome diesen Standpunkt in Worte faßte, widersprach Rachel vehement. „Er ist ganz und gar nicht wie Stephen. Das
Problem ist nur, er ist ebenso sicher wie ich, daß Stephen noch am Leben ist.‚
„Wieso
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