Marlene Suson 1
leichenblaß. Er hielt die Augen geschlossen, und sie hätte nicht sagen können, ob er nur schlief oder bewußtlos war.
Neben dem Bett bemerkte Rachel einen Haufen verschmutzter, blutiger Kleidungsstücke. „Was ist passiert?‚ fragte sie knapp.
„S’is sein Bein, M’lady‚, sagte Sam bekümmert.
Sie zog die Decke fort. Der Mann war groß und muskulös und nur mit einer Hose bekleidet. Das linke Hosenbein war aufge- schnitten und enthüllte eine tiefe, böse aussehende Wunde am Oberschenkel.
„Mein Gott, das ist ja eine Schußwunde!‚ rief sie.
Die Erinnerung an Sir Waldos Räuberpistole schoß ihr durch den Kopf. Hatte sie nicht dem Herzog versichert, Fletcher könnte nicht einmal ein Scheunentor treffen. Hier lag der Gegenbeweis.
„Was ist passiert?‚ wiederholte Rachel ihre Frage. Obwohl sie wußte, wen sie vor sich hatte, wollte sie es aus Sams Mund hören. „Wer ist er?‚
„Mein Vetter aus York. Is zu Besuch hier. War im Wald, und irg’ndwer hat auf ihn geschoss’n. Hat’n wohl für’n Reh gehalt’n.‚
„Lügen Sie mich nicht an, Sam‚, wies Rachel ihn scharf zu- recht. „Das hier ist Gentleman Jack.‚
Schuldbewußt sah Sam sie an. Er öffnete den Mund, als wollte er widersprechen, zögerte einen Augenblick und sagte dann bei- nahe trotzig: „Er is der feinste Mann unter der Sonne, M’lady. Bitte, Sie müss’n ihm helf’n.‚
„Selbstverständlich helfe ich ihm, Sam.‚
Der Straßenräuber stöhnte, und sie legte ihm die Hand auf die Stirn. Er glühte vor Fieber.
Sie beugte sich über ihn und untersuchte die Wunde. Sie war völlig verklebt von geronnenem Blut und Schmutz und hätte schon längst behandelt werden müssen. Sie sah wirklich böse aus.
Der Zustand des Mannes war kritisch. Er hatte hohes Fieber, und seine Blässe deutete auf einen hohen Blutverlust hin.
„Das sieht nicht gut aus‚, sagte sie rundheraus. „Sie hätten mich schon gestern abend holen sollen, Sam, und nicht erst jetzt.‚
„Hatte doch keine Ahnung, daß es ihn erwischt hat‚, sagte Sam niedergeschlagen. „Ham ihn heut’ im Wald gefund’n, ich un’ mein Bruder.‚
„Heute morgen erst!‚ rief Rachel entsetzt. Sie dachte an das Unwetter der vergangenen Nacht. Wie lange mochte der Straßen- räuber hilflos und verwundet auf dem kalten, schlammigen Bo- den gelegen haben, während der Regen auf ihn herunterpras- selte? Kein Wunder, daß er in so schlechter Verfassung war. Ein Wunder wäre vielmehr, wenn er sich keine Lungenentzündung geholt hatte.
„Sein Gaul is weggelauf’n. Er hat versucht herzukriech’n, der arme Kerl. Is aber nich weit gekommen, bisser schlappgemacht hat. Kein Mucks hatter getan, wie wir’n fand’n.‚
Rachel untersuchte die geschwollene Schmarre an Gentleman Jacks Schläfe und dann den Rest seines Körpers nach weiteren Verletzungen. Zum Glück fand sie keine. Die Kugel hatte mög- licherweise den Schenkelknochen gestreift, doch gebrochen war nichts. „Warum sind Sie nicht schon tagsüber zu mir gekommen, Sam?‚
„Da war er bei sich. Wollte nichts davon wiss’n.‚
„Gibt es hier saubere Leintücher?‚
„Im Schrank.‚
Rachel öffnete ihn und fand darin sauber gestapelte Herrenwä- sche. Sie nahm zwei Halstücher aus feinstem Batist heraus und mehrere Taschentücher. Angesichts ihrer Qualität konnte Rachel feststellen, daß der Name Gentleman Jack wohl noch mehr zutraf, als die Leute dachten.
Als sie ihre Ledertasche neben dem Bett öffnete, wurde der Straßenräuber plötzlich von einem heftigen Schüttelfrost ge- packt. Noch ein schlechtes Zeichen!
Rachel goß aus dem Kessel heißes Wasser in eine Schüssel und begann die tiefe, schwärende Wunde zu reinigen. Dann legte sie einen heißen Breiumschlag auf, um die Entzündung und den Eiter herauszuziehen.
Gentleman Jack stöhnte mehrmals auf, während sie ihn be- handelte, kam jedoch zum Glück nicht zum Bewußtsein. Das er- leichterte ihre Arbeit erheblich.
Mit Sams Hilfe flößte sie ihm einen Heiltrank ein, der das Fie- ber senken sollte.
Damit war alles erledigt, was sie im Augenblick für ihn tun konnte. Sie zog sich einen Stuhl neben das Bett, setzte sich und machte sich auf eine lange, sorgenvolle Nacht gefaßt.
„Ich bring’ Sie jetz lieber heim, M’lady‚, sagte Sam.
„Nein, ich kann noch nicht fort. Wenn er die Nacht überleben soll, wird er viel Pflege brauchen.‚ Rachel betete im stillen, daß niemand ihre Abwesenheit bemerkte. Sie ging ein großes Risiko ein, wenn sie
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