Marlene Suson 1
beharrte Gentleman Jack. Er stellte den Suppenteller auf den Nachttisch und zog sie neben sich aufs Bett.
Sie wollte protestieren, doch dann gewann die Neugier die Oberhand. Und wenn er recht hätte? Wenn es nur der Kuß war, der sie so aus dem Gleichgewicht gebracht hatte, und nicht der Mann?
Also ließ sie es zu, daß der Straßenräuber sie küßte.
Obwohl er sein Handwerk offensichtlich verstand, spürte Ra- chel nicht die Erregung wie damals beim Kuß des Herzogs. Sie hatte auch nicht das Bedürfnis, den Kuß zu erwidern.
Als Gentleman Jacks Zunge Einlaß begehrte, preßte sie unwill- kürlich die Lippen zusammen und schob ihn zurück.
Mit der für sie typischen Offenheit erklärte sie: „Jetzt bin ich sicher –es ist der Mann.‚
Sie fragte sich, weshalb Gentleman Jack so enttäuscht wirkte. Schließlich sollte es doch nur ein Test sein, oder?
„Wer ist der Schwachkopf?‚fragte Gentleman Jack verdrossen.
Rachel wurde feuerrot. „Oh, das kann ich Ihnen nicht ver- raten.‚
Er griff wieder nach seiner Suppe und löffelte sie schweigend, während er Rachel gedankenvoll musterte. Rachel bemerkte, daß er die schlanken, gepflegten Hände eines Gentleman hatte. Gewiß war er einer.
Als er mit der Suppe fertig war, stellte er den Teller beiseite. „Wie ich höre, hat sich der Duke of Westleigh zu einem Besuch auf Wingate Hall herabgelassen.‚
Rachel spürte, daß sie wieder errötete. Plötzlich durchfuhr sie ein eisiger Schreck. „Großer Gott, Sie wollen ihn doch nicht etwa berauben?‚platzte sie heraus.
„Warum nicht? Finden Sie nicht, daß er es genauso verdient wie Creevy und Fletcher?‚
„O nein! Der Herzog ist ganz anders als diese beiden.‚
„Ach ja?‚ Gentleman Jack ließ sie nicht aus den Augen. „Aber man sagt doch, er sei eiskalt und hochnäsig.‚
„Ja, das hat mein Bruder Stephen auch behauptet. Dabei ist der
Herzog ganz anders. Er ist ein Mann, der seine wahren Gefühle hinter seiner Reserviertheit verbirgt.‚
„Dann finden Sie Westleigh also nicht kalt und dünkelhaft?‚
„Nein.‚
„Obwohl er Sie nicht mag?‚
Erschreckt hob sie den Kopf.
„Ich habe es längst erraten‚, sagte der Straßenräuber mit sanf- ter Stimme.
„Ich verstehe ihn einfach nicht!‚ stieß Rachel verzweifelt her- vor. „Nachdem er mich geküßt hatte, machte er den Eindruck, als wollte er es wieder tun, aber jetzt meidet er mich.‚
Überrascht und befremdet, sah Rachel, daß der Straßenräuber das Gesicht zu einem breiten Grinsen verzog. „Sie finden das amüsant, ja?‚ fragte sie böse.
„Weil das ein ausgesprochen gutes Zeichen ist, Sie Unschulds- engel‚, erklärte Gentleman Jack vergnügt. „Nein, fragen Sie nicht weiter. Ich kann es Ihnen sowieso nicht erklären. Außerdem müs- sen Sie jetzt gehen, sonst kommen Sie zu spät zum Dinner.‚
Rachel hatte die Zeit ganz vergessen. Hastig griff sie nach ih- rer Tasche und eilte zur Tür. Als sie sie öffnete, rief er ihr nach: „Schicken Sie mir Sam herein. Er muß etwas Wichtiges für mich besorgen.‚
In seinen Augen lag ein teuflisches Glimmen.
Ferris reichte Jerome ein zusammengefaltetes Blatt Papier. „Vor ein paar Minuten kam ein Mann in den Stall geschlichen und gab es mir. Ich wußte, Sie würden es sofort sehen wollen.‚
Auf der Außenseite des Blattes stand: ,Ferris, für J.’
Jerome erkannte die flüchtig hingekritzelte Schrift sofort, und tiefe Erleichterung durchflutete ihn. Morgan war am Leben, und es ging ihm gut genug, um schreiben zu können. Jeromes Angst um den Bruder war inzwischen schier unerträglich geworden.
Hastig entfaltete er das Blatt und las die geheimnisvolle Nach- richt: „Konnte nicht kommen, weil ich am Bein verletzt war. Nichts Ernstes, wird aber noch ein paar Tage dauern. Muß Dich jedoch unbedingt treffen. Warte bis dahin auf Wingate Hall. Ich komme, sobald ich kann. Verbrenn den Zettel. M.‚
Jerome schickte ein Dankgebet zum Himmel, weil sein Bruder offensichtlich außer Gefahr war.
Dann las er die Nachricht noch einmal stirnrunzelnd durch. Ursprünglich war Morgan doch gar nicht begeistert von der Idee,
sich mit ihm zu treffen. Wieso war er jetzt so erpicht darauf? Was war geschehen?
„Was werden Sie jetzt tun?‚ fragte Ferris.
Jerome zog eine Grimasse. „Was schon? Ich warte, bis Morgan kommt.‚
Das bedeutete, daß er auf Wingante Hall und in der gefährli- chen Nähe von Lady Rachel festsaß.
Er unterdrückte ein Stöhnen. Morgan hatte nicht die leiseste Ahnung,
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