Marlene Suson 1
Mamas Tod war Papa völlig verändert. Es war, als wäre das Licht aus seinem Leben verschwunden.‚
„Wie alt warst du damals.‚
„Dreizehn.‚ Es war noch immer schmerzlich für Rachel, sich an den Tod ihrer Mutter zu erinnern. Deshalb wechselte sie rasch das Thema. „Nach dem, was du mir heute morgen gesagt hast, verstehe ich nicht, wieso du mich plötzlich heiraten willst.‚
Jerome hatte den Arm noch immer um sie gelegt, und sie war- tete mit angehaltenem Atem auf seine Antwort. Hatte er – wenn auch reichlich spät – doch endlich eingesehen, daß er sie liebte?
Er seufzte. „Ich fürchte, das verstehe ich selbst nicht ganz.‚
Rachel war so gekränkt, daß sie sich mit einem Ruck von ihm losmachte und in die äußerste Ecke der Sitzbank rutschte. „Of- fenbar fällt dir kein guter Grund ein‚, fauchte sie böse. „Und mir fällt überhaupt keiner ein, weshalb ich zustimmen sollte.‚
„Oh, für deine Zustimmung fallen mir eine ganze Reihe sehr stichhaltiger Gründe ein, meine Liebe.‚
Es brachte Rachel jedesmal in Harnisch, wenn er sie ,meine Liebe’ nannte. Wann immer er es tat, verriet sein sarkastischer Ton, daß er das Gegenteil meinte.
Gleichmütig begann er aufzuzählen: „Erstens, du bist ruiniert und von der Gesellschaft ausgestoßen. Folglich würdest du nie einen Gatten und eine Familie haben, es sei denn, du heiratest mich. Zweitens, Gott allein weiß, was für teuflische Pläne deine Tante Sophia mit dir verfolgen würde, wenn du auf Wingate Hall geblieben wärst. Drittens, als meine Gemahlin wirst du den ge- sellschaftlichen Status einer Herzogin mit all den damit verbun- denen Privilegien haben.‚
„Ich würde niemals einen Mann seines Standes wegen heira- ten.‚ Und auch keinen, der mich nicht liebt, fügte sie im stil- len hinzu.
„Dann hättest du Tony Denton heiraten sollen.‚
Aber sie liebte Tony nicht. Doch anstatt Jerome das zu sagen, antwortete sie: „Tante Sophia hätte es nie zugelassen. Außerdem wäre er sicher ein miserabler Ehemann.‚
„Und du glaubst, ich gebe einen besseren ab?‚
Dessen war sie sicher, wenn er sie nur lieben würde! Sonst würden sie beide sehr unglücklich werden.
„Antworte mir‚, befahl er.
Rachel wandte den Kopf ab, um die aufsteigenden Tränen zu verbergen.
„Sieh mich an!‚
Als sie nicht gehorchte, fluchte er leise und rückte zu ihr herü- ber. Er griff ihr unters Kinn und drehte ihr Gesicht zu sich. Ein Taschentuch erschien in seiner Hand, und er wischte ihr sanft die Tränen fort.
Dann legte er wieder den Arm um sie und drückte sie stumm und tröstend an sich. Rachel wußte nicht, was sie von diesem widersprüchlichen Mann halten sollte. Eben noch war er schroff und aggressiv, und im nächsten Augenblick zart und einfühl- sam. Sein dauernder Stimmungswechsel brachte sie völlig durch- einander. Wenn das so weiterging, war sie bald reif fürs Ir- renhaus.
Da die Sonne vom Himmel schien, wurde es in der Kutsche im- mer wärmer, und Jerome zog seinen Reitmantel aus. Nach einer Weile sagte er: „Dir muß doch viel zu warm sein in dem Mantel. Warum ziehst du ihn nicht aus?‚
„Das kann ich nicht in deiner Gegenwart.‚
Herausfordernd hob er eine Braue. „Wieso nicht?‚
„Ich habe kein Kleid an, nur mein Negligé.‚
„Ich habe dich schon mit weniger gesehen.‚
„Das war etwas anderes‚, flüsterte sie. Da hatte sie geglaubt, daß er sie liebte. Jetzt wußte sie es besser.
„Was war anders daran?‚ fragte er mit einem belustigten Un- terton.
Er würde sie nur auslachen, wenn sie es ihm sagte. Trotzig hob sie das Kinn. „Laß mich in Ruhe.‚
Er stieß einen leisen Fluch aus und gab dem Kutscher ein Zei- chen, anzuhalten. „Wie du willst‚, sagte er schroff. „Den Rest der Reise werde ich im Sattel verbringen.‚
Er sprang aus der Kutsche, noch bevor sie zum Stillstand kam. Als er sich auf seinen Hengst schwang, hörte Rachel Ferris sagen: „Es wundert mich, daß Sie Morgan dagelassen haben.‚
„Wenn er die Begleitumstände meiner Abreise von Wingate Hall erfährt‚, gab Jerome ironisch zurück, „wird die Neugier ihn postwendend nach Parnlee treiben, verlaß dich drauf.‚
Wer ist Morgan? fragte Rachel sich, während sie ihren Mantel auszog.
Die Kutsche holperte weiter, und Rachel vermißte Jerome schon nach ein paar Minuten. Plötzlich erschien ihr der Sitz viel härter, und die Schlaglöcher auf der Straße kamen ihr viel tiefer vor. Gott allein mochte wissen, warum – sie
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