Marlene Suson 1
nächsten Morgen in dem großen Himmelbett er-
wachte, war Jerome schon auf und bereits fertig angekleidet. Ein sehnsüchtiger Ausdruck trat in ihre Augen beim Anblick seiner hochgewachsenen, athletischen Gestalt in der tadellos geschnittenen Garderobe.
Sie wünschte, er würde zu ihr zurück ins Bett kommen und sie in die Arme nehmen, doch er schien nicht die Absicht zu haben. Sie kämpfte die Enttäuschung nieder und fragte: „Wirst du mir heute Royal Elms zeigen?‚
„Das geht nicht. Ich fürchte, du mußt heute in diesem Zimmer bleiben. Wir werden zum Vorwand nehmen, daß du von der be- schwerlichen Reise zu erschöpft bist, um aufstehen zu können.‚
„Warum denn nur, um Himmels willen?‚
Er kam zu ihr und setzte sich auf die Bettkante. Die Huldi- gung, die in seinem Blick lag, war unübersehbar und erwärmte Rachels Herz.
„Sobald du dich außerhalb dieses Zimmer zeigst, erfordert es die Etikette, daß ich dir die gesamte Dienerschaft vorstelle. Obwohl du in jedem Fetzen reizend aussehen würdest, ist die- ses simple Baumwollkleid wohl kaum eine passende Toilette für deinen ersten Auftritt als meine Herzogin.‚
Jerome hatte recht. Die Dienstboten würden besser gekleidet sein als sie, und das würde sie schockieren.
Zärtlich strich er ihr eine Locke aus der Stirn. „So gewinnen wir Zeit, bis Morgan mit einigen deiner Kleider kommt. Ich habe Anweisung gegeben, daß man dir ein heißes Bad bereitet und ein Frühstückstablett heraufbringt. Außerdem habe ich Mrs. Needham, die Haushälterin, darüber informiert, daß du auf kei- nen Fall gestört werden darfst.‚ Ein besorgter Ausdruck trat in seine Augen. „Ich hoffe, du kommst mit ihr zurecht. Sie ist eine ausgezeichnete Haushälterin, doch im letzten Jahr ist sie ein bißchen schwierig geworden.‚
Zu Rachels Enttäuschung erhob Jerome sich, ging zur Kom- mode und griff nach seinen ledernen Reithandschuhen. „Jetzt muß ich aber los.‚
„Wohin?‚ Für einen Besuch war es eigentlich zu früh am Tag.
„Zu Emily Hextable.‚
Eifersucht schlich sich in Rachels Herz. „Warum? Drängt es dich so sehr, die Frau wiederzusehen, die du meinetwegen nun nicht mehr heiraten kannst?‚
Sein Gesicht spannte sich, wie seine ganze Haltung. „Ich bin es Emily schuldig, sie von meiner Eheschließung in Kenntnis zu
setzen, bevor sie es von anderer Seite erfährt. Es ist eine Frage des Takts.‚
Eine Stunde später kam Jerome zurück, grimmig und schweig- sam. Die Unterredung mit Emily war offenbar unerfreulich ge- wesen, doch er weigerte sich, mit Rachel darüber zu sprechen. Als sie versuchte, ihn auszufragen, beschied er sie kurz: „Das geht nur Emily und mich etwas an.‚ Nach einem kurzen Zögern fügte er schuldbewußt hinzu: „Sie ist eine wunderbare Frau, und es schmerzt mich, ihr weh tun zu müssen. Sie widmet ihr Leben der Nächstenliebe, und ich hoffe, du wirst ihrem Beispiel folgen.‚
Rachels Mut sank. Wenn ihr Gemahl sie mit Emily, diesem Ausbund an Tugend verglich, würde sie vermutlich den kürze- ren ziehen.
Sie sah Jerome erst am Abend wieder, als ihnen das Dinner im Schlafzimmer serviert wurde. Obwohl er ihr beim Essen Ge- sellschaft leistete, fragte sie sich, weshalb er sich überhaupt die Mühe machte. Er war so abwesend, daß ihre Bemühungen, eine Unterhaltung in Gang zu bringen, kläglich scheiterten. Dachte er an Emily?
Schließlich fragte Rachel, der Verzweiflung nahe. „Willst du mir bitte sagen, was eigentlich los ist?‚
Sein Kopf fuhr hoch, und Jerome wirkte fast zerknirscht. „Tut mir leid, daß ich heute abend so wortkarg bin. Es haben sich eine Menge Probleme ergeben, während ich fort war.‚ Er lächelte be- drückt. „Ich fürchte, ich hätte mir keinen unpassenderen Zeit- punkt für meinen Besuch in Yorkshire aussuchen können.‚
„Weshalb bist du denn überhaupt nach Yorkshire gekom- men?‚
„Um meinen Bruder zur Vernunft zu bringen. Für die Gefan- gennahme Gentleman Jacks soll demnächst eine enorme Beloh- nung ausgesetzt werden. Alle Welt wird hinter ihm her sein. Als ich davon erfuhr, mußte ich alles stehen und liegen lassen und nach Yorkshire fahren, um ihn zu überreden, sein Leben als Straßenräuber aufzugeben. Ich hatte es vorher schon mehrfach versucht.‚
„Diesmal aber mit Erfolg.‚ Rachel wünschte, er würde ihr erzählen, welche Argumente den Ausschlag gegeben hatten, um Morgan zu überzeugen. Doch er schwieg sich aus. „Was für Pro- bleme sind in deiner Abwesenheit
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