Marlene Suson 1
aufgetaucht?‚
„Ich will dich nicht damit langweilen.‚ Zerstreut fuhr Jerome sich mit der Hand durchs Haar. Rachel bemerkte die Müdigkeit in seinen Augen und die feinen Linien der Erschöpfung um sei- nen Mund.
Sie legte ihre Hand auf seine. „Du würdest mich nicht lang- weilen. Du scheinst zu vergessen, daß ich einige Erfahrung mit landwirtschaftlichen Problemen habe. Außerdem bist du mein Ehemann, und deine Sorgen interessieren mich immer.‚ Sie drückte seine Hand. „Bitte, Jerome.‚
Mit einem sonderbaren Gesichtsausdruck sah er sie an. Es war, als wollte er ihr glauben, wagte es aber nicht recht. Dann sagte er: „Ich habe weitreichende Geschäftsinteressen, und es sind wichtige Entscheidungen zu treffen. Der Verwalter von Royal Elms ist am Tag meiner Abreise ernstlich erkrankt, und es ist viel Arbeit liegengeblieben. Hinzu kommt, daß der Ankauf von Stanmore Acres, einem benachbarten Landgut, während meiner Abwesenheit zum Abschluß kam. Jetzt stehe ich vor der Aufgabe, es zu einem wenigstens halbwegs gewinnbringenden Unternehmen umzugestalten.‚
„Wenn es in einem so schlechten Zustand ist, warum hast du es dann überhaupt gekauft?‚
Jerome griff nach seinem Weinglas und spielte gedankenver- loren mit dem Stiel. Rachel sah zu und wünschte sich im stillen, seine Finger würden mit etwas anderem spielen.
„Stanmore Acres war ein schöner, florierender Besitz, als Lord Stanton noch lebte. Nach seinem Tod ging alles an seinen Vetter, einen faulen Taugenichts, der das Land und die Pächter gewis- senlos ausbeutete, um seine Spielleidenschaft zu finanzieren.‚
„Und weshalb hast du es gekauft?‚ beharrte Rachel.
Er zögerte und sagte dann fast schroff: „Ich konnte einfach nicht mit ansehen, wie Land und Leute zugrunde gingen.‚
Ein tiefes Gefühl der Zuneigung für diesen komplizierten Mann wallte in Rachel auf. „Was kann ich tun, um dir dabei zu helfen?‚
Ihre Frage schien ihn zu überraschen. „Nichts, mein Schatz, aber danke für das Angebot.‚
Sie erinnerte sich an Morgans Worte: Jerome hält es für seine Pflicht, sich alles selbst aufzuladen.
Spät am Abend traf Morgan ein und mit ihm Rachels Ledertasche und ein paar ihrer Kleider. Er berichtete, daß er das Packen ih-
rer restlichen Habe überwacht und eine Kutsche gemietet hatte, die ihre Sachen umgehend herbringen würde. Seine. Schätzung nach müßte sie in drei oder vier Tagen ankommen.
„Hast du auch daran gedacht, mit Benjy wegen der Kätzchen zu sprechen?‚ fragte Rachel.
Für den Bruchteil eines Augenblicks wirkte Morgan verlegen. Dann sagte er: „Ja, gewiß.‚
Als Rachel eine Weile später zu Bett ging, schlüpfte sie in das einzige Nachthemd, das Morgan von Wingate Hall mitgebracht hatte. Es war ein hauchzartes Gebilde aus rosa Seide und Spitze.
Beim Anblick dieser verführerischen Kreation schien alle Mü- digkeit von Jerome abzufallen. Er schlang die Arme um Rachel und flüsterte: „Gott helfe mir, aber der Mann, der dir widerste- hen kann, ist noch nicht geboren.‚
21. KAPITEL
Am nächsten Morgen zog Rachel eines der Kleider an, die Mor- gan mitgebracht hatte. Es war ein spitzenbesetztes Gewand aus geblümter gelber Seide, das ihre schmale Taille besonders gut zur Geltung brachte.
Das beifällige Aufblitzen in Jeromes Augen verriet ihr, daß er ihre Wahl billigte. Trotzdem klang seine Stimme fast deprimiert, als er sagte: „Laß uns jetzt hinuntergehen und die Sache so schnell wie möglich hinter uns bringen.‚
„Was denn?‚ fragte Rachel.
„Die Vorstellung der Dienerschaft.‚ Jerome verzog das Gesicht, als müßte er eine bittere Medizin schlucken.
Es gab Rachel einen schmerzlichen Stich. Weshalb fürchtete er diese Prozedur? Schämte er sich ihretwegen?
Dieser Gedanke nagte an ihr, während sie mit Jerome die breite Freitreppe zu der Marmorhalle hinunterging.
Unten wartete die Dienerschaft, um ihre neue Herrin kennen- zulernen. Rachel war überrascht, als sie sah, wie viele es waren. Sie wirkten fast wie Soldaten, denn sie standen mit ernsten Ge- sichtern so steif da wie beim Morgenappell auf dem Kasernenhof.
Offenbar fragten sie sich mit heimlicher Angst, wie ihre neue Herrin wohl sein mochte, und Rachel konnte das sogar verstehen. Eine neue Herrin konnte sehr viele Veränderungen im Haus be- wirken, sowohl zum besseren als auch zum schlechteren. In ih- rem Bestreben, die Leute zu beruhigen, vergaß Rachel die eigene Nervosität.
Die Dienstboten hatten sich in hierarchischer
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