Marlene Suson 2
den wider- spenstigen Ulmenkloben zu spalten, der ihm am Morgen solche Probleme bereitet hatte. Er wünschte, der Duke of Westleigh könnte ihn jetzt sehen. Dabei wußte der Herzog vermutlich nicht einmal, was bei einer Axt oben und unten war.
In seiner Beurteilung von Stephens Charakter freilich hatte er eindeutig recht gehabt. Niemand außer dem Herzog hatte je gewagt, Stephen so unverblümt seine Meinung zu sagen. Nicht einmal sein Vater. Nein, sein Vater hatte ihn nur traurig und enttäuscht angesehen. Westleigh hatte in Worte gefaßt, was sein Vater nur dachte.
Und mit gutem Grund.
Stephen hatte seinen Vater für altmodisch und provinziell ge- halten. Dabei war er nichts von beidem gewesen, nur ein guter, aufrechter, liebevoller Mann.
In Stephens blasiertem Londoner Zirkel hatten die aristokra- tischen Müßiggänger sich über die wahre Liebe lustig gemacht und behauptet, daß es nur eine beschönigende Umschreibung für pure Sinneslust sei. Doch seine Eltern hatten einander wirklich geliebt, und sie waren sehr glücklich gewesen.
Stephen erinnerte sich, wie seine Freunde über seinen Vater gespottet hatten, weil er seiner Frau die Treue hielt, obwohl er viele andere Frauen hätte haben können.
Heute wußte Stephen, daß diese Freunde völlig falsch gelegen hatten.
Er stellte einen weiteren Ulmenkloben auf den Hackklotz und spaltete ihn geschickt. Sein Vater war ein warmherziger, enga- gierter Mann gewesen, und seine Familie, sein Land und seine Pächter hatten alle davon profitiert. Er war rechtschaffen und charakterfest gewesen, und ihn wollte Stephen sich nun zum Vorbild nehmen. Er wollte so werden wie sein Vater.
Stephen war noch immer beunruhigt darüber, was Wilhelm über Charles Galloways Tod berichtet hatte. Mit großer Wahr- scheinlichkeit war Megans Stiefvater absichtlich getötet worden,
vielleicht von Hiram Flynts Handlangern. Es war nicht auszu- schließen, daß auch Megan selbst in Gefahr war.
Er stapelte gerade das Feuerholz zu einem sauberen Stoß auf, als er Megan herankommen hörte. Er drehte sich zu ihr um.
„Ich dachte, Sie hätten uns verlassen“, kam sie ohne Um- schweife zum Thema.
„Wie sind Sie denn darauf gekommen?“ fragte er bestürzt. „Weil ich so lange weg war?“
„Ich sah Sie auf der Straße. Sie gingen nach Norden. Ich dachte, Sie hätten es sich anders überlegt.“
In ihren grauen Augen las er, wie betrogen sie sich gefühlt hatte. Er erinnerte sich daran, daß Quentin nicht den Schneid gehabt hatte, ihr persönlich zu sagen, daß er auf und davon wollte. Er hatte sich mit einem lausigen Zettel aus der Affäre gezogen.
Stephen sehnte sich danach, sie in die Arme zu nehmen und zu trösten, doch er strich ihr nur sanft mit der Fingerspitze über die Wange. „Megan, ich würde nicht fortgehen, ohne mich von Ihnen zu verabschieden.“
Sie sah ihn so traurig und so voller Zweifel an, daß er spontan versicherte: „Ich verspreche, daß ich das nie tun werde.“
Im selben Augenblick hätte er sich am liebsten die Zunge abgebissen. Voreilig hatte er ein Versprechen abgegeben, das er möglicherweise nicht halten konnte. Wenn seine Verfolger ihn erwischten, würden sie ihn auf der Stelle fortschleifen und ihm bestimmt keine Gelegenheit geben, vorher mit Megan zu sprechen.
„Danke“, sagte sie mit schwankender Stimme.
Er wollte sie ein wenig aufmuntern und sagte mit einem leisen Lächeln: „Nach dem Fiasko mit dem Feuerholz heute morgen waren Sie wahrscheinlich richtig froh, mich los zu sein.“
„Nicht, wenn Sie unser bestes Gewehr mitnehmen.“
„Ah, ich verstehe. Mich hätten Sie nicht vermißt.“ Er ließ es sich zwar nicht anmerken, doch er verspürte einen stechen- den Schmerz. „Es war nur das Gewehr, dem Sie nachgetrauert haben.“
Als sie es nicht abstritt, fuhr er fort: „Ich fürchte, ich kann es Ihnen nicht einmal übelnehmen nach dem Chaos, das ich heute morgen verursacht habe.“
Megan stieß mit der Fußspitze an ein Holzscheit, das am Boden lag. „Wo wollten Sie hin, als ich Sie auf der Straße sah?“
„Zu Wilhelm. Er sollte mir ein paar Dinge beibringen, von denen ich keine Ahnung hatte.“
Sie wirkte so überrascht, daß Stephen unwillkürlich lachen mußte. „Sie hatten recht, Megan. Wilhelm hat lediglich eine an- dere Erziehung genossen als ich, und ich räume ein, daß seine möglicherweise von größerem Wert ist als meine.“
„Zumindest hier im Grenzland“, meinte sie mit einem fried- fertigen Lächeln.
„Mein
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