Marlene Suson 2
sprüht“, sagte Josh in einem so belehrenden Ton, daß Stephen mit den Zähnen knirschte.
„Wo in aller Welt haben Sie das her?“ fragte Megan.
„Aus dem Schuppen.“
Das schien sie noch wütender zu machen. „Sie meinen, Sie haben unsere Zaunpfähle genommen?“ rief sie aufgebracht. „Warum? Weil sie schon zugeschnitten waren? Sie sind ja noch fauler als Quentin.“
Ihre Verachtung schmerzte mehr als Hiram Flynts Peitsche. „Es tut mir leid, Megan. Das wußte ich nicht.“
Ihrem Gesichtsausdruck nach würde sie ihm so rasch nicht vergeben. Und daraus konnte er ihr wohl auch keinen Vorwurf machen.
Sein Blick fiel auf das Gewehr neben der Tür. Das war doch wenigstens etwas, womit er umgehen konnte. Er war ein Mei- sterschütze und hatte sich auf der Jagd immer hervorgetan. Dies war seine Chance – vermutlich die einzige überhaupt –, seine Ehre zu retten.
Mit entschlossenen Schritten strebte er dem Wald zu, über- zeugt, in kürzester Zeit mit seiner Jagdbeute zurück zu sein.
Eine Stunde später – er hatte noch kein einziges Wild erlegt – mußte er sich widerwillig eingestehen, daß er sich schon wieder überschätzt hatte.
Gewiß, er war ein Meisterschütze. Doch selbst der beste Schütze konnte nichts ausrichten, wenn er kein Tier zu Gesicht bekam. Erst in diesem Augenblick wurde Stephen bewußt, wie abhängig er von seinen Jagdhunden war, die das Wild für ihn aufstöberten.
So wie die Dinge lagen, hätte er ebensogut an diesem Morgen aufbrechen können, wie er es geplant hatte. Für Megan war er ohnehin keine Hilfe.
Seine sorgfältige Erziehung in Eton und Oxford war völlig für die Katz, wenn es darum ging, hier in der Wildnis zu überleben.
Noch nie im Leben war Stephen sich so klein und unzulänglich vorgekommen wie in den vergangenen vierundzwanzig Stunden. Er hatte immer geglaubt, aufgrund seiner hohen Geburt etwas Besonderes zu sein, doch jetzt wußte er es besser.
Er wünschte sich verzweifelt, Megan beweisen zu können, daß sie ihn falsch beurteilte. Daß er nicht der beschränkte Prahlhans war, für den sie ihn hielt. Bisher hatte er ihr lediglich bewiesen, wie sehr er sich dauernd überschätzte.
Wenn Stephen Megan überhaupt eine Hilfe sein wollte, würde er lernen müssen, wie man sich in dieser Wildnis behauptete. Der einzige Mensch, der ihm dabei helfen konnte, war Wilhelm.
Es war ein harter Schlag für Stephens Ego, sich an einen Mann wenden zu müssen, den er so leichtfertig als „Schwachkopf“ abgetan hatte. Andererseits war er wild entschlossen, Megan zu beweisen, daß er für sie von Nutzen sein konnte. Es überraschte ihn, wie wichtig es ihm war, ihre Anerkennung zu gewinnen. So schluckte er denn seinen Stolz hinunter und machte sich auf den Weg zu Wilhelms Farm.
So, wie das Glück ihm heute hold gewesen war, würde er ver- mutlich unterwegs Flynts zweibeinigen Spürhunden in die Arme laufen.
11. KAPITEL
Meg hängte die nasse Wäsche auf die Leine, die in der Nähe des Blockhauses zwischen zwei Birken gespannt war. Versonnen blickte sie den Abhang hinunter auf den Weg, der an der Ostseite des Shenandoah-Tals entlangführte.
Normalerweise gab es da nicht viel zu sehen. Heute jedoch schritt eine hochgewachsene Gestalt in einem ledernen Jagd- hemd entschlossen in nördlicher Richtung, ein Gewehr in der Hand.
Irgend etwas an der stolzen Kopfhaltung und dem elastischen, etwas anmaßenden Schritt kam Megan bekannt vor. Im nächsten Augenblick wußte sie, wer der Mann war: Stephen Wingate.
Er war fortgegangen! Einen Moment lang war Meg so verstört, daß sie keinen klaren Gedanken fassen konnte. Dann jedoch überfiel sie das trostlose Gefühl eines schmerzlichen Verlusts. Er war einfach gegangen und hatte sie schmählich verraten.
Sie hätte wissen müssen, daß man Stephen Wingate nicht trauen durfte.
Oder irgendeinem Mann.
Ohne ihr auch nur ein Wort des Abschieds zu gönnen, hatte er sich auf den Weg nach New York zu seinem Bruder gemacht.
Und obendrein hatte der Spitzbube auch noch ihr bestes Gewehr mitgehen lassen.
Soviel zu seinem Versprechen, sie nicht zu berauben.
Und zu seinem Versprechen, auf der Farm zu bleiben und zu helfen, bis Josh wieder auf den Beinen war.
Wie hatte sie nur so dumm sein können, dem Wort eines Mannes zu trauen, zumal dann, wenn es sich um einen so undurchsichtigen Mann wie Stephen Wingate handelte.
Meg spielte mit dem Gedanken, dem Halunken nachzulaufen, um ihm das Gewehr abzujagen. Doch sie wußte, daß sie ihn nicht
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