Marlene Suson 2
Vater war ein sehr erfolgreicher Landwirt, und ich hätte so viel von ihm lernen können, wenn ich nur zugehört hätte.“ Doch Stephen hatte sich nicht dafür interessiert. Er war fort- gegangen und hatte sich dieser Clique angeschlossen. Er wollte einer von ihnen sein und kein „muffeliger Landjunker, der nach Kuhstall roch“.
Ein tiefes Schuldgefühl stieg in ihm hoch, und er stieß heftig hervor: „Was für eine Enttäuschung ich für meinen Vater gewesen sein muß!“
Er schlug die Axt in den Hackklotz, wandte sich ab und starrte blicklos in den Wald, der die Lichtung umgab. „Gott, wie ich es bereue, und wie ich mich schäme!“ Seine Stimme klang ganz rauh. „Als mein Vater krank wurde, bat er mich, aus London zurückzukommen und Wingate Hall zu leiten. Aber ich weigerte mich. Ich dachte, er hätte seine Krankheit nur vorgeschoben, um mich aus meinem geliebten London wegzulotsen. Mein Vater war immer so gesund und stark gewesen, daß ich ihm die Krankheit einfach nicht abnahm.“
Meg legte ihm mitfühlend die Hand auf den Arm. „Aber er war wirklich krank, nicht wahr?“
Stephen nickte, ohne den Blick vom Wald abzuwenden. „Ich hätte wissen müssen, daß mein Vater mich niemals anlügen würde. Er war ehrlich und aufrichtig bis in die Knochen. Obwohl ich es nicht glauben wollte, war er todkrank.“
Und anstatt an der Seite seines sterbenden Vaters zu sein, hatte Stephen seine Zeit mit nichtigen Vergnügungen in Lon- don vertan. Die Verachtung, die er für sich selbst empfand, war bodenlos.
Im letzten Lebensjahr seines Vaters hatte Rachel das Landgut geleitet, und sie hatte ihre Sache bemerkenswert gut gemacht. Stephen war sehr stolz auf seine tüchtige Schwester. Sie und Megan Drake hatten viel gemeinsam. Beide waren freundliche,
gütige und außerordentlich fähige Frauen. Erst seit kurzer Zeit war Stephen aufgegangen, daß diese Qualitäten schwerer wogen als Schönheit.
Er wandte den Blick von den Bäumen ab und schaute Megan an. Eine Haarsträhne hatte sich unter ihrer Haube hervorgestohlen, und er schob sie sanft mit den Fingern zurück. Er sah, wie ihre volle Unterlippe bei seiner Berührung erbebte, und konnte dem Wunsch einfach nicht widerstehen, ihr einen flüchtigen Kuß auf die Lippen zu hauchen.
Sie zuckte zurück. „Sie haben es versprochen!“
„Ich habe versprochen, Ihnen nicht die Unschuld zu rauben. Aber einen harmlosen kleinen Kuß hin und wieder können Sie doch erübrigen, oder?“
„Ich bezweifle, daß sie so harmlos sind.“
Es freute ihn, daß sie das zugab. Er rang sich zu einer Frage durch, die zu stellen er früher viel zu stolz gewesen wäre. „Wenn ich heute wirklich fortgegangen wäre, hätten Sie dann auch mich ein wenig vermißt oder nur Ihr Gewehr?“
Ihr sonst so fester Blick wurde unsicher, und sie zögerte ei- nen Augenblick. „Ich hätte Sie vermißt“, gestand sie dann kaum hörbar.
„Ich Sie auch.“ Es erschreckte Stephen, als ihm bewußt wurde, wie sehr er sie vermißt hätte.
Am Abend überraschte Stephen Meg mit der Bitte um Feder, Tinte und Schreibpapier. „Feder und Tinte habe ich, und ich denke, unter Charles’ Sachen werde ich auch Schreibpapier finden.“
Sie durchsuchte die Truhe, bis sie das Papier fand. Sie reichte es Stephen und fragte ihn, an wen er denn schreiben wolle.
„An meinen Bruder George in New York. Ich habe heute erfahren, daß ich den Brief im Wirtshaus zur Post geben kann.“
Als Stephen mit dem Brief fertig war und ihn mit einem Stück- chen Wachs, das Meg ihm überließ, versiegelt hatte, legte er ihn auf die Tischkante. „Ich bringe ihn gleich morgen früh zum Wirtshaus.“
Meg betrachtete das Schreiben neugierig und sah, daß es an Captain George Wingate in New York adressiert war. Erleichte- rung durchflutete sie. Demnach hatte Stephen tatsächlich einen Bruder namens George in New York, und der war Captain bei der Armee.
Doch gleich kamen ihr wieder Zweifel. Vielleicht war der Mann gar nicht sein Bruder, und Stephen hatte sich nur dessen Nachnamen angeeignet. Ihre Erleichterung schwand wieder.
Ihre Gefühle für Stephen waren so widersprüchlich, wie sie nur sein konnten – einmal himmelhoch jauchzend und dann wieder zu Tode betrübt.
Weshalb waren ihre Empfindungen so unbeständig, wenn es um diesen Mann ging?
Weil seine Geschichte so wenig glaubhaft war.
Und doch, je länger sie ihn kannte, desto geneigter war sie, ihm Glauben zu schenken.
Wenn sie ehrlich war, mußte sie zugeben, daß es
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