Marlene Suson 2
flüchtigen Kuß auf die Wange, und gehorsam reichte er ihr die Haube.
Obwohl es ein kindisches Spiel war, hatte Meg entdeckt, daß es ihr Spaß machte. Es erstaunte sie immer wieder, wie sehr seine unbeschwerten Albereien ihre Tage erhellten, die früher nur aus endloser Plackerei bestanden hatten. Er schien es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, sie möglichst oft zum Lachen zu bringen, wie beispielsweise mit seinen „Privatvorstellungen“: Er führte eine Pantomime vor, und Josh und Meg mußten raten, welches Sprichwort gemeint war. Dabei wirkte er oft so ulkig, daß sie sich vor Lachen bogen.
In seiner Gesellschaft flogen die Abende, die ihr früher endlos erschienen waren, nur so dahin. Ständig fiel ihm etwas Neues ein, womit er sie unterhalten konnte, selbst wenn Meg dabei spann, stopfte oder strickte.
Manchmal sangen sie miteinander, oder er las vor.
Meg hatte es am liebsten, wenn er Shakespeare las, weil er den jeweiligen Charakteren stets die passende Stimme lieh.
Manchmal überredete er Meg dazu, gemeinsam mit ihm mit verteilten Rollen zu lesen. Dann saßen sie immer dicht nebenein- ander und beugten die Köpfe über das Buch.
Seine Nähe brachte Meg stets völlig aus dem Gleichgewicht. Dann wünschte sie sich oft, von ihm geküßt zu werden. Nicht diese flüchtigen Küßchen auf die Wange, die sie manchmal im Spaß tauschten, sondern einen heißen, leidenschaftlichen Kuß wie damals unten am Fluß.
Hastig verscheuchte Meg diese unbotmäßigen Gedanken, setzte die Flöte an die Lippen und begann wieder zu spielen.
Doch sie konnte es nicht länger leugnen: Der Fremde, der in jener Nacht so unversehens in ihr Leben gestolpert war, bedeutete ihr inzwischen sehr viel mehr, als ihr guttat.
Wenn wir die Ernte eingebracht haben, wird er fortgehen. Dann werde ich ihn nie wiedersehen.
Megs Herz zog sich bei dem Gedanken schmerzhaft zusammen. O Gott, sie durfte sich nicht in diesen Mann verlieben. Ihr Kinn begann zu zittern. Da ihre Lippen das Mundstück nun nicht mehr
richtig umschlossen, entschlüpfte der Flöte prompt ein falscher Ton.
Sofort hoben Stephen und Josh den Kopf. Meg riß sich zusam- men und spielte das Stück fehlerfrei zu Ende. Dann sagte sie: „Schluß für heute. Ich muß wieder an den Webstuhl.“
Sie begann die Flöte auseinanderzunehmen, ohne sich um den Protest ihres Publikums zu kümmern.
Es hatte keinen Sinn, sich ständig vor Augen zu führen, daß Stephen ein gefährlicher Mann mit einer dunklen Vergangenheit sein könnte. Ihr Herz fiel nicht mehr darauf herein. Ein solcher Mann hätte sich ganz gewiß anders verhalten.
Doch seine Geschichte, ein wohlhabender englischer Grundbe- sitzer zu sein, der durch einen unbekannten Feind in die jetzige Lage gebracht worden war, erschien ihr dennoch ein bißchen weit hergeholt.
Zumal er bei seiner Ankunft von der Landwirtschaft nicht den leisesten Schimmer hatte.
Stephen sah zu, wie Meg ihre Flöte in den Kasten zurücklegte. Er konnte kaum glauben, wieviel Vergnügen er an der so an- spruchslosen Abendunterhaltung im Blockhaus der Drakes hatte. Er, der früher so wählerisch gewesen war. In Megans Gesellschaft empfand er einen Frieden und eine innere Ruhe, wie er es seit seiner Kindheit auf Wingate Hall nicht mehr erlebt hatte.
Seine Bewunderung für Megan wuchs von Tag zu Tag. Sie ar- beitete vom frühen Morgen bis zum späten Abend. Sie hielt das Feuer in Gang, kochte, bestellte den Garten, butterte, kämmte Wolle oder Flachs, spann, wob, nähte und stopfte.
Stephen wurde schon müde, wenn er nur daran dachte. Sie erinnerte ihn lebhaft an den winzigen grüngoldenen Vogel mit dem roten Fleck am Hals, den er unten im Küstengebiet gesehen hatte. Die Leute dort nannten ihn Kolibri. Er kam niemals zur Ruhe. Er flatterte unentwegt mit den Flügeln, während er mit seinem langen Schnabel Nektar aus den Blüten sog.
Ja, Megan war wie ein Kolibri. Auch sie gönnte sich niemals Ruhe.
Und noch nie hatte er erlebt, daß sie sich beschwerte. Wenn je eine Frau Grund dazu gehabt hatte, dann sie. Die meisten Frauen, denen das Schicksal so übel mitgespielt hatte wie Megan, wären verzweifelt und daran zugrunde gegangen. Sie dagegen
vergeudete weder Zeit noch Kraft damit, die Ungerechtigkeit zu beklagen, die ihr widerfahren war.
Josh verdrückte sich nach draußen, um einem menschlichen Bedürfnis nachzugehen. Stephen bemerkte, daß Megans Flöten- kasten noch immer offen auf ihrem Schoß lag, während ihr Blick nachdenklich auf Stephen
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