Marlene Suson 2
ruhte. „Was ist los?“
„Wer, glauben Sie, ist Ihr unbekannter Feind? Der, der Ihnen das alles angetan hat.“
„Keine Ahnung. Ich wünschte, ich wüßte es.“
„Wer würde am meisten davon profitieren, wenn Sie auf Nimmerwiedersehen verschwinden?“
Dies war eine Frage, über die Stephen am liebsten gar nicht nachdachte. Er fand auch nie eine schlüssige Antwort darauf. Er stand auf, ging zur Tür, die Josh offengelassen hatte, und schaute hinaus in die Nacht.
„Wer würde Ihren Besitz erben?“ Meg ließ nicht locker.
„Mein Bruder George. Aber er kann nicht hinter meiner Entführung stecken.“
„Haben Sie sich gut verstanden?“
„Besser als die meisten Brüder, bis ich nach Eton ging.“ Danach hatten sie sich etwas auseinandergelebt.
Megan schloß ihren Flötenkasten und trug ihn zu dem kleinen Lederkoffer. „Könnte George aus irgendeinem Grund böse auf Sie sein?“
Stephen erinnerte sich an den geharnischten Brief von George, den er in Paris während jener unglückseligen Europareise erhal- ten hatte. George hatte ihm gehörig den Marsch geblasen, weil er Rachel die ganze Verantwortung für Wingate Hall aufgeladen hatte.
Rachel müßte ihr Debüt in London geben. Sie muß in die Gesellschaß eingeführt werden, damit sie die Chance hat, einen passenden Mann kennenzulernen. Statt dessen sitzt sie in Yorkshire fest und hat deine Arbeit am Hals.
George hatte das Wort „deine“ dreimal unterstrichen. Und er hatte natürlich mit allem recht gehabt. Bei der Lektüre des Briefes hatte Stephen sich fest vorgenommen, alles wiedergut- zumachen. Er würde dafür sorgen, daß Rachel im nächsten Jahr ihre verspätete Saison in London bekam. Jetzt war natürlich auch
diese Saison längst vorbei. Ob seine bedauernswerte Schwester wohl noch immer treu und brav auf Wingate Hall saß, während das Leben an ihr vorbeizog?
„Verzeih mir, Rachel. Es tut mir so schrecklich leid“, flüsterte er in die Nacht hinaus, als könnte der Wind seine Worte über den großen Ozean bis nach Yorkshire tragen. Irgendwie mußte er eine Möglichkeit finden, seine Fehler wiedergutzumachen.
„Sind Sie ganz sicher, daß George nicht hinter der Entführung steckt?“ fragte Megan behutsam.
Zum Teufel, das war es ja gerade. Stephen war eben nicht ganz sicher. Doch selbst wenn George seinem älteren Bruder den Tod wünschte, um Titel und Vermögen erben zu können, würde er Stephen doch sicherlich nicht dermaßen hassen, wie sein unbekannter Feind es offenbar tat.
... er soll doch was davon ha’m, bisser ins Gras beißt. Wir kieg’n unsern Kies nur, wenn wir’s so mach’n.
Andererseits konnte Stephen sich beim besten Willen nie- manden vorstellen, der ihm einen möglichst langsamen und grausamen Tod wünschte.
Meg legte den Flötenkasten in den Koffer. „Die Menschen tun mitunter furchtbare Dinge, wenn viel Land auf dem Spiel steht.“
„Zugegeben, aber George interessierte sich nicht für Wingate Hall. Es war schon immer sein größter Wunsch, zur Armee zu gehen. Das einzige, was er wollte, war sein Offizierspatent.“ Sehr zum Kummer des Vaters.
Meg schloß den Koffer. „Vielleicht hat Ihr Bruder beschlossen, sich beides zu beschaffen.“
„Aber er kann nicht ...“ Stephen unterbrach sich mitten im Satz. „Herr, du meine Güte!“
„Was haben Sie?“
„Beinahe hätte ich die Vereinbarung vergessen, zu der mein Vater George mehr oder weniger zwang. Als Gegenleistung dafür, daß er ihm ein Offizierspatent kaufte. Darin wurde folgen- des festgelegt: Wenn ich ohne männlichen Nachkommen sterbe, müßte George entweder seinen Abschied von der Armee nehmen, oder Wingate Hall fällt an Rachel.“
„Könnte es denn Rachel sein, die dahinter ...“
„Nein!“ stieß Stephen wild hervor, ohne Megan aussprechen zu lassen. „Nicht Rachel. Niemals!“ Dessen war er ganz sicher.
„Was ist mit ihrem Mann? Könnte er eventuell ...“
„Sie ist nicht verheiratet.“
„Vielleicht hat sie inzwischen doch geheiratet.“
Stephen wußte, daß Megan an ihre Mutter und Galloway dachte. Ein Brief von Anthony Denton fiel ihm ein, den er auch in Paris erhalten hatte, kurz bevor er nach England zurückkehrte, wo sein schreckliches Schicksal dann seinen Lauf nahm.
Denton hatte ihm geschrieben, daß er sich in Rachel verliebt habe. Ausgerechnet Denton, der sich immer über die Liebe lustig gemacht hatte. Er hatte Stephen um die Hand seiner Schwester gebeten. Im ersten Augenblick hatte es Stephen gefreut, daß
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