Marlene Suson 3
dachte an die Schande, die sie über sich und ihre Familie bringen würde.
Das Schlimmste jedoch war, daß sie die Menschen enttäuschen würde, die so verzweifelt auf ihre Hilfe hofften.
Daniela biß sich auf die Lippen und versuchte mit aller Macht, die Tränen zurückzuhalten. Sie durfte nicht weinen. Dieser Mann
sollte sie nicht schwach sehen. Sie würde ihrem Schicksal tapfer und mit erhobenem Kopf entgegentreten.
„Wie heißen Sie?“ fragte er.
Trotzig begegnete sie seinem Blick, fest entschlossen, ihre Iden- tität nicht preiszugeben. „Dan ... Daniel Roberts.“ Das stimmte beinahe – abgesehen von den beiden A, die sie weggelassen, und dem Nachnamen, den sie nicht erwähnt hatte. Sie war auf den Namen Daniela Roberta Winslow getauft worden, im Anden- ken an die beiden Brüder ihres Vaters Daniel und Robert, die gestorben waren, bevor sie das Mannesalter erreicht hatten.
„Das ist gelogen.“ Mit seiner freien Hand griff er in ihr langes flammendrotes Haar und hielt es ihr vors Gesicht.
Mit sinkendem Herzen kam ihr zum Bewußtsein, daß sie bei dem Handgemenge ihren schwarzen Hut verloren hatte. Ihre dichte Mähne, die sich schon immer kaum bändigen ließ, hatte sich selbständig gemacht und fiel ihr auf die Schultern herab.
Sie begegnete dem grimmigen Blick des Fremden, und eine plötzliche, unerklärliche Hitze schoß in ihr hoch – ein Gefühl, wie sie es noch nie empfunden hatte. Ein merkwürdiges Auf- blitzen in seinen Augen ließ die Vermutung aufkommen, daß er etwas Ähnliches empfand.
Mit einem Male war sie sich der Kraft und Wärme seines Körpers bewußt, der sie gegen die Kutschenwand preßte. Wie- der begann ein Lächeln um seine Mundwinkel zu zucken, noch übermütiger und herausfordernder als vorher. Ihr Pulsschlag beschleunigte sich.
„Dies ist die Stellung“, sagte er mit sinnlicher Stimme, „in der mir eine Frau am liebsten ist.“
Die versteckte Andeutung ließ Daniela erstarren. Mit wach- sender Panik verfolgte sie, wie sein Mund sich langsam auf ihre Lippen herabsenkte. „Sie ... Sie ... perverses Subjekt!“ spie sie ihm entgegen. „Einen Mann zu küssen!“
Sein Kopf verharrte dicht vor ihrem Gesicht. „Dummes Ding! Glaubst du denn, ich könnte nicht zwischen einem männlichen und einem weiblichen Körper unterscheiden?“
Die schreckliche Erinnerung an einen anderen Mann und eine andere Nacht überfiel Daniela mit grausamer Wucht. In wil- der Panik versuchte sie wieder, gegen den Fremden anzukämp- fen. Sie kämpfte mit aller Kraft, trat um sich und versuchte verzweifelt, sich loszureißen.
Ein jammervoller, klagender Laut durchschnitt die Nacht, wie
der Schrei eines gefangenen Wildtieres, und Daniela fragte sich unwillkürlich, wer oder was so geschrien haben mochte.
Der Fremde erstarrte. Sein mutwilliges Lächeln war wie weg- geblasen, und er sah sie erschrocken an. In diesem Augenblick be- griff Daniela, daß der Schrei aus ihrer eigenen Kehle gedrungen sein mußte. Sie zitterte am ganzen Leib.
„Herrgott, Mädchen, ich will dir doch nicht weh tun. Ich will dich nur küssen.“
Mit anklagendem Blick sah sie zu ihm auf. „Küsse tun aber weh.“
Einen Augenblick lang starrte er sie schweigend an. Dann sagte er ruhig: „Meine nicht.“
Seine Lippen strichen ganz leicht über ihren Mund, bevor er sie sanft und zart küßte. Einen solchen Kuß hatte Daniela noch nie empfangen. Der Mann ließ ihre Handgelenke los und fuhr zärtlich mit den Fingerspitzen über ihr Gesicht, als wäre sie ein aufgescheuchtes Reh, das es zu besänftigen galt.
Vielleicht war sie das auch.
Sein Kuß war nicht wie jene anderen. Die waren abstoßend, brutal und schmerzhaft gewesen.
Ganz allmählich wich Danielas Angst einer tiefen Verwunde- rung. Wer hätte je geglaubt, daß ein Mann von solcher Körper- kraft – oder überhaupt irgendein Mann – so sanft sein könnte!
Nach einer Weile wurde sein Kuß drängender, fordernder, ein- ladender ... und Daniela folgte der Einladung. Zum erstenmal im Leben verspürte sie den Wunsch, einen Mann zu küssen. Wieder regte sich diese seltsame Hitze in ihrem Körper.
Es war wie ein Rausch.
Als der Fremde schließlich seine Lippen von den ihren löste, waren ihre Knie so weich, daß nur noch sein an sie gepreßter Körper sie aufrecht hielt.
An dem mutwilligen Glimmen in seinen Augen und dem un- verschämten Grinsen erkannte sie, daß er genau wußte, welche Wirkung sein Kuß auf sie ausübte. Daniela fuhr sich mit der Zungenspitze
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