Marlene Suson 3
es auf einen Versuch ankommen.“
Es waren weniger seine Worte als vielmehr das unerwartete Mitgefühl in seinen Augen, das sie zögernd antworten ließ: „Es mag sich albern anhören, aber wenn ich die Maske aufsetze, habe ich das Gefühl, ein anderer Mensch zu sein ...“ Dann war
sie nicht mehr die ungeschickte, reizlose Daniela Winslow, son- dern eine strahlende Heldin. Dann war sie nicht mehr abhän- gig, rechtlos und unterdrückt. „... Ein Mensch mit der Macht, Unrecht wieder gutzumachen.“ Beschämt und verlegen senkte sie den Blick. „Es ist wohl kaum zu erwarten, daß Sie mich verstehen.“
Er griff ihr unters Kinn und hob ihr Gesicht. „O doch.“
Da war etwas in seinem freundlichen, nachdenklichen Ge- sichtsausdruck, das Daniela von seiner Aufrichtigkeit über- zeugte. Sie wagte kaum zu atmen.
Wieder strich er mit den Lippen leicht über ihren Mund. Eine pulsierende Wärme erfüllte sie. „Und jetzt machen Sie, daß Sie fortkommen, sonst überlege ich mir das mit der Maske noch einmal.“
Das ließ Daniela sich nicht zweimal sagen. Mit einer raschen, geschmeidigen Bewegung schwang sie sich in den Sattel. Der Fremde bückte sich, hob ihren Hut vom Boden auf und reichte ihn ihr.
Daniela stülpte sich den Hut über den Kopf und zog ihn tief in die Stirn. Sie wollte gerade losreiten, als ihr die Pistolen ein- fielen. Auf ihre Bemerkung hin schaute der Kutscher, der die Waffen noch immer in der Hand hielt, fragend seinen Herrn an.
„Die behältst du vorläufig, Ferris“, sagte der Fremde und fuhr dann zu Daniela gewandt fort: „Ich gebe sie Ihnen zurück, wenn Sie mir sagen, wer Sie sind, und wenn Sie versprechen, die Straßen nicht mehr als Gentleman Jack unsicher zu machen.“
„Was geht es Sie an, ob ich als Gentleman Jack auftrete oder nicht?“
Ein rätselhaftes Lächeln umspielte seine Lippen. „Falls Sie Ihre Pistolen zurückfordern wollen, werden Sie mich auf Green- mont finden. Während der nächsten zwei Wochen halte ich mich dort auf.“
Daniela unterdrückte eine patzige Antwort, als sie erfuhr, daß er zwei Wochen mit ihr unter einem Dach verbringen würde.
Seine launige Stimme wurde plötzlich ernst. „Ich rate Ihnen dringend, dieses gefährliche Spiel aufzugeben.“
Daniela dachte an die Menschen, die auf ihre Hilfe angewie- sen waren. Sie schluckte und sagte dann gepreßt: „Das kann ich nicht.“
Seine Züge verhärteten sich. „Sie kleine Närrin! Begreifen Sie denn nicht, daß Sie mit Ihrem Leben spielen? Wenn Sie mit diesen
Dummheiten nicht aufhören, werden Sie mit einem Halsband in den Himmel kommen.“
Verdutzt sah sie ihn an. „Was ... was soll das heißen?“
„Das soll heißen, wenn Sie Ihr verrücktes Spiel weitertreiben, werden Sie am Galgen enden. Gute Nacht und süße Träume, meine schöne Wegelagerin.“
2. KAPITEL
Lord Morgan Parnell war rundum mit sich zufrieden. Er hatte diesem geheimnisvollen „Gentleman Jack“ eine Lehre erteilt. Gelassen schaute er der davongaloppierenden Gestalt nach. Er hatte seine Reise nach Greenmont mit voller Absicht so geplant, daß er um Mitternacht möglichst langsam diese Straße entlang- fuhr, wo der Straßenräuber ihm vermutlich auflauern würde.
Sein Plan war aufgegangen. Erwartungsgemäß hatte der Räuber sich nicht verkneifen können, die elegante Reisekutsche anzuhalten, die Morgan sich von seinem Bruder, dem Duke of Westleigh, ausgeborgt hatte.
Natürlich hatte er nicht damit rechnen können, daß der Straßenräuber eine Frau war. Diese Entdeckung hatte er noch immer nicht ganz verdaut.
Während sie im Wald verschwand, wandte er sich zu Ferris um. „Warum grinst du so blöd?“
„Ich muß nur gerade daran denken, was Sie dem unverfrorenen Hochstapler alles antun wollten, der sich für Gentleman Jack ausgibt. Jetzt wissen Sie noch nicht einmal, wer die Frau war.“
„Ich hatte nicht erwartet, daß es eine Frau sein würde.“
Ferris’ Grinsen wurde noch breiter. „Und noch dazu so ein Prachtweib.“
„Nein“, gestand Morgan ein wenig verlegen. Er konnte sich nicht erinnern, einen Kuß je so erregend gefunden zu haben.
„Aber warum haben Sie sie gehen lassen, ohne sie zu demas- kieren?“
Das hätte Morgan selbst nicht mit Sicherheit sagen können. Vielleicht wegen des Kusses. Vielleicht auch, weil er so gut ver- stand, daß sie sich wie ein ganz anderer Mensch fühlte, wenn sie die Maske trug. Vermutlich jedoch deshalb, weil ihre kompro- mißlose Tapferkeit ihn so beeindruckt hatte.
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