Marlene Suson 3
Daniela vor sechs Jahren in London verbracht hatte – und die dann so katastrophal enden mußte. Zahllose Bewerber hatten Lady Elizabeth damals umschwärmt. Sie hatte sich in ihrer Bewunderung gesonnt, um dann schließ- lich den Antrag des ältesten Sohnes und Erben des Earl of Bathhampton anzunehmen. Man erzählte sich, daß einige ihrer abgewiesenen Verehrer auf ihrer Hochzeit geweint hätten.
Dann, vor einem Jahr, wurde ihr Mann von einem Londoner Straßenräuber getötet, noch bevor er den Titel seines Vaters erben oder einen eigenen Sohn und Erben zeugen konnte.
Wenn die Szene, die sich vor Danielas Augen abspielte, nicht täuschte, war die junge Witwe, die erst vor kurzem die Trauer- kleidung abgelegt hatte, wieder dabei, Bewunderer anzuziehen wie der Honigtopf die Fliegen. Daniela konnte nur staunen, mit welcher Perfektion diese Frau es verstand, die Aufmerksamkeit der Männer auf sich zu lenken.
Sie fand, daß Lady Elizabeth stets wie ein wunderschönes Ge- mälde wirkte. Sie hatte alle Vorzüge, die Daniela abgingen. Sie war klein und zierlich, schön und anmutig. Wann immer sie mit dieser Frau im selben Raum war, fühlte Daniela sich noch größer und schwerfälliger als sonst. „Ich frage mich, weshalb Lady Elizabeth heute abend gekommen ist. Eigentlich hatte sie Basil schon abgesagt, doch dann schrieb sie im letzten Augenblick, daß sie es doch einrichten könnte.“
„Sie hat erfahren, daß der Bruder des Duke of Westleigh anwe- send sein wird“, klärte Charlotte sie auf. „Das pfeifen doch schon die Spatzen von den Dächern, daß Lord Morgan ihr nächster Ehemann werden soll, zumindest wenn es nach ihr geht.“
„Weshalb sollte sie sich einen so berüchtigten Lebemann als Gatten wünschen?“
Charlotte lächelte weise. „Wenn du Lord Morgan kennen würdest, brauchtest du nicht zu fragen.“
Nun wurde Daniela doch ein wenig neugierig. „Ist er un- ter den Männern, die sich dort um Elizabeth scharen?“ fragte sie.
„Nein. Die Frauen scharen sich um ihn, nicht andersherum. Selbst Elizabeth mit all ihrer Schönheit und ihrem Charme wird merken, daß es gar nicht so einfach sein dürfte, Lord Morgan einzufangen. Er ist viel zu gewitzt und weiß genau, wie man heiratswütigen Frauen ein Schnippchen schlägt.“
„Da bist du ja, Daniela.“
Danielas Laune sank auf den Nullpunkt, als sie die Stimme ihres Bruders hinter sich hörte. Zögernd drehte sie sich um. Nur sehr selten sprach er in einem so auffallend jovialen Ton mit ihr, und es weckte sofort ihren Argwohn.
Basil war das älteste von Lord Croftons Kindern. Er war klei- ner als all seine Geschwister und auch korpulenter. Er reichte Daniela gerade bis zum Kinn, so daß sie immer auf ihn hinab- schauen mußte, wenn sie mit ihm sprach. Seine Augen, Nase und Mund waren unverhältnismäßig klein für sein breites Gesicht. Er pflegte im Stehen die Brust betont herauszustrecken, was ihn jedoch lediglich aufgeblasen wirken ließ.
Er, der Erstgeborene, und sie, die Jüngste, waren die häßlichen Entlein des Winslow-Clans. Sie waren so ganz anders geraten als ihr Bruder James und ihre beiden Schwestern, die alle von nor- maler, durchschnittlicher Größe waren. James war ohne Zweifel ein gutaussehender junger Mann. Die Schwestern, bildhübsche junge Frauen, hatten sich vor Bewerbern kaum retten können, und beide hatten brillante Partien gemacht.
Daniela unterdrückte einen Schauder, als sie sah, daß Basil in Begleitung Sir Waldo Fletchers war. Sie verabscheute diesen Mann.
Basil hatte das falsche Lächeln aufgesetzt, dem sie schon vor langer Zeit zu mißtrauen gelernt hatte. „Du erinnerst dich doch an Sir Waldo?“
Wie könnte sie ihn vergessen? Die menschenunwürdige Art, mit der er seine Grubenarbeiter behandelte, war ja der Grund für ihre Auftritte als Gentleman Jack. „Ja, natürlich.“
„Es ist mir eine große Ehre, daß Sie mich nicht vergessen haben, Mylady“, sagte Fletcher ölig und verbeugte sich tief.
Gewiß hätte er sich nicht so geehrt gefühlt, wenn er wüßte, was sie von ihm hielt. Am liebsten hätte sie ihm ihre Verachtung ins Gesicht geschleudert, doch das war unmöglich. Er war ein geladener Gast.
Der Baronet, der genauso kurz und stämmig war wie Basil, hatte sich mit einem roten Satinleibrock und passender Hose herausgeputzt. In diesem Aufzug wirkte er noch runder als sonst. Unter seiner voluminösen gepuderten Perücke glänzte sein Mondgesicht fast im gleichen Farbton wie sein Rock. „Wollen Sie
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