Marlene Suson 3
soll dich holen.“
„Es überrascht mich, daß er mein Fehlen überhaupt bemerkt hat.“ Solange der Haushalt reibungslos lief, ignorierte ihr Bruder sie gewöhnlich, abgesehen von seinen kränkenden Bemerkungen über ihre Größe, ihren Charakter und ihre Ungeschicklichkeit.
Charlottes braune Augen musterten Daniela anerkennend. „Wie hübsch du heute abend aussiehst.“
Daniela freute sich über das Kompliment, obwohl sie natür- lich wußte, daß das Wort „hübsch“ bei ihr fehl am Platz war. Basil hatte es ihr oft genug versichert. Und in diesem Punkt hatte er sogar recht. Sie war größer als irgendeine Frau ihrer Bekanntschaft und obendrein dünn und reizlos.
Ihre feuerrote dichte Mähne war einfach nicht zu einer ele- ganten Frisur zu bändigen, zumindest nicht lange. Und mit ih- ren Kleidern hatte sie auch dauernd Pech. Fortwährend zerriß sie sich einen Ärmel an einer Klinke oder verlor eine Rüsche.
Daniela blickte hinab auf ihr prächtiges Kleid aus schim- mernder grüner Seide. Es hatte einen weiten, gebauschten Rock, der vorn über einem cremefarbenen, spitzenbesetzten Unterkleid gerafft war. Seit Jahren hatte sie kein so schönes Kleid besessen.
Normalerweise gab Daniela wenig um Mode und Putz. Doch seit sie wußte, daß der Fremde auf dem Ball sein würde, war sie – wieso eigentlich? – überaus froh, dieses wunderschöne neue Kleid tragen zu können. Hoffentlich überstand sie den Abend, ohne es zu beschädigen.
„Ist das Kleid neu?“ fragte Charlotte.
„Ja. Aus einem unerfindlichen Grund war Basil der Meinung, ich müßte es haben.“
„Das überrascht mich aber“, sagte Charlotte trocken. „Wie unerwartet großzügig von ihm.“
Danielas Bruder war im allgemeinen höchst knauserig, wenn es um ihre Garderobe ging, und der Umstand, daß er auf diesem Kleid bestanden hatte, weckte Unbehagen in ihr. Wie sie ihren Bruder kannte, steckte irgend etwas dahinter.
Wenn sie nur wüßte, was.
Charlotte ergriff Danielas Hand. „Komm, du hast dir soviel
Mühe mit den Vorbereitungen für den Ball gegeben. Jetzt wird es Zeit für dich, die Früchte deiner Arbeit zu genießen.“
„Am liebsten würde ich gar nicht hinuntergehen.“ Danielas Widerwille entsprang nicht nur der Angst, daß der gutaussehende Fremde von gestern nacht sie wiedererkennen könnte. Wann im- mer sie einen Ballsaal betrat, spürte sie all die abschätzenden Blicke und hörte im Geist die infamen Lügen, die hinter vorge- haltenem Fächer über sie ausgetauscht wurden. Honorige Män- ner ignorierten sie, es sei denn, die Höflichkeit zwang sie, einen Pflichttanz mit ihr zu absolvieren. Und die Männer, die es mit der Ehre nicht so genau nahmen, betrachteten sie als Freiwild.
Aufmunternd drückte Charlotte Danielas Hand. „Du mußt aber mit herunterkommen.“
„Ich hasse die Leute, die da unten versammelt sind. Basil hat seine widerwärtigen Freunde eingeladen, wie beispielsweise Sir Waldo Fletcher. Darüber hinaus hat er einige Männer hergebeten, die ich noch nicht kenne, darunter Lord Morgan Parnell, diesen berüchtigten Schürzenjäger.“ Angewidert rümpfte Daniela die Nase. „Du weißt, wie ich Männer dieses Schlags verabscheue.“
„Lord Morgan ist nicht Gilfred Rigsby.“
Daniela versteifte sich, als Charlotte den Namen des nieder- trächtigen Schufts erwähnte, der ihren guten Ruf für immer zerstört hatte.
„Lord Morgan sieht sündhaft gut aus und hat mehr Charme als irgendein Mann, den ich kenne“, fuhr Charlotte fort. „Hinzu kommt, daß er der Bruder eines hochangesehenen und steinrei- chen Herzogs ist.“
„Der nicht nur hochangesehen, sondern auch überaus hochnä- sig ist. Während meiner Londoner Saison bin ich dem Duke of Westleigh vorgestellt worden, und von seiner eisigen Arroganz habe ich fast Frostbeulen bekommen.“
„Ich kenne den Herzog nicht, aber wenn du recht hast, ist er ganz anders als sein Bruder. Lord Morgan sprüht vor Charme. Ich glaube, er kann jede Frau um den Finger wickeln.“
„Dich auch?“ fragte Daniela schmunzelnd, denn sie wußte, wie glücklich Charlotte verheiratet war, und daß sie nur Augen für ihren Mann hatte.
Charlotte lächelte. „Sogar mich. Komm, wir müssen jetzt gehen.“
„Noch nicht.“
Kopfschüttelnd musterte Charlotte die Freundin. „Jetzt sag
bloß nicht, daß eine so forsche Frau wie du, die beim Reiten und Klettern jeden Mann in die Tasche steckt, vor einem lächerlichen Ball Angst hat.“
Vor physischen Gefahren hatte
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