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Mars Trilogie 1 - Roter Mars

Mars Trilogie 1 - Roter Mars

Titel: Mars Trilogie 1 - Roter Mars Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Stanley Robinson
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hindurch, und Coprates öffnete sich wieder und gab ihnen etwas Spielraum. Die Flut schwenkte ein paar Kilometer nach Norden.
    In der Abenddämmerung hielten sie an. Sie waren mehr als vierzig Stunden hintereinander gefahren. Sie standen auf und reckten sich, schlurften herum und setzten sich wieder hin, um eine Mikrowellenmahlzeit zu verspeisen. Maya, Simon, Michel und Kasei waren guter Dinge, Sax war derselbe wie immer, Nadia und Frank etwas weniger brummig als sonst. Die Oberfläche der Flut war im Moment gerade gefroren, und es war möglich zu sprechen, ohne die Kehle zu ruinieren, und doch gehört zu werden. Und so aßen sie, auf die kleinen Portionen konzentriert und plauderten zwanglos.
    Spät bei dieser ruhigen Mahlzeit schaute Ann ihre Gefährten ringsum an, plötzlich erstaunt durch dies Schauspiel menschlicher Anpassungsfähigkeit. Hier verzehrten sie ihr Mahl und plauderten über den geringen Aufschwung im Norden in einer perfekten Illusion der Tischgemeinschaft eines Speisesaals. Es hätte irgendwo zu jeder Zeit sein können, und ihre müden Gesichter strahlten wegen eines kollektiven Erfolgs oder auch nur wegen der Freude gemeinsam zu essen.
    Dabei dröhnte außerhalb ihrer Kammer die zerbrochene Welt, und ein Steinschlag konnte sie in jedem Augenblick vernichten. Ann fiel ein, daß die Freude und Beständigkeit von Speisesälen schon immer vor einem solchen Hintergrund vorgekommen war, in Konfrontation mit einem universellen Chaos. Solche Augenblicke der Ruhe waren vergänglich und flüchtig wie Seifenblasen, dazu bestimmt zu bersten, sobald sie in Erscheinung traten. Gruppen von Freunden sowie Räume, Straßen, Jahre - nichts davon würde andauern. Die Illusion von Beständigkeit wurde durch eine gemeinsame Bemühung geschaffen, das Chaos zu ignorieren, in das sie eingebettet waren. Und so aßen sie, plauderten und genossen ihre gemeinsame Gesellschaft. So war es schon in den Höhlen gewesen, in der Savanne, in den Wohnungen und Gräben und den unter Bombardement stehenden Städten.
    So war es auch in diesem Moment des Sturms. Ann Clayborn gab sich einen Ruck. Sie stand auf und ging zum Tisch. Sie nahm den Teller von Sax, der sie zuerst aus der Reserve gelockt hatte, dann die von Nadia und Simon. Sie trug die Teller zu ihrer kleinen Magnesiumspüle. Und beim Tellerwaschen fühlte sie, wie sich ihre steife Kehle bewegte. Sie krächzte ihren Anteil an der Konservation und half mit ihrem kleinen Faden, das Gewebe der menschlichen Illusion zu gestalten. »Eine stürmische Nacht!« sagte Michel zu ihr, als er beim Abtrocknen der Teller neben ihr stand. »Wirklich eine stürmische Nacht!«
    Am nächsten Morgen erwachte sie als erste und betrachtete die Gesichter ihrer Gefährten, die jetzt im Tageslicht höchst ungepflegt aussahen - schmierig, aufgedunsen, schwarz von Frostnarben, mit offenen Mündern im Tiefschlaf der Erschöpfung. Sie wirkten wie tot. Und sie hatte ihnen keine Hilfe zu bieten. Im Gegenteil! Sie war der Gruppe ein Hemmnis gewesen. Jedesmal, wenn sie in den Wagen zurückgekommen waren, hatten sie über die verrückte Frau auf dem Boden hinwegsteigen müssen, die da lag und sich weigerte zu sprechen, oft weinte, deutlich in schwerer Depression gefangen. So etwas hatte ihnen gerade noch gefehlt!
    Beschämt stand sie auf und säuberte ruhig den Hauptraum und den Bereich des Fahrers. Und später an diesem Tage löste sie ihre Kameraden beim Fahren des Rovers ab. Sie übernahm eine sechsstündige Schicht und war danach erschöpft. Aber sie brachte sie gut nach Osten durch das Dover-Tor.
    Aber ihre Schwierigkeiten waren noch nicht vorbei. Coprates hatte sich etwas geöffnet, jawohl, und die Südwand hatte zum größten Teil gehalten. Aber es gab in diesem Gebiet einen langen Grat, der jetzt eine Insel war und mitten durch den Canyon verlief und ihn in einen nördlichen und einen südlichen Kanal teilte. Unglücklicherweise lag der südliche tiefer als der nördliche, so daß der größte Teil der Flüssigkeit durch ihn strömte und sie dicht an die Südwand drängte. Zum Glück ließ ihnen die Bankterrasse etwa fünf Kilometer Platz zwischen der Flut und der eigentlichen Wand. Aber mit der Flut so nahe zu ihrer Linken und den steilen Klippen zur Rechten verloren sie nie das Gefühl von Gefahr. Und sie mußten ihre Stimmen heben, um wenigstens die halbe Zeit zu sprechen. Das krachende Getöse der Wogen schien ihnen in den Kopf zu dringen und machte es schwerer denn je, sich zu konzentrieren,

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