Mars-Trilogie 2 - Grüner Mars
andern. Sie verhielt sich unpersönlich und distanziert. Er glaubte, sie würde die gleiche bleiben, ganz gleich, was mit ihm geschähe. Nadia oder sogar Maya kümmerten sich mehr um ihn. Und dennoch war Hiroko ihrer aller Mutter. Und Nirgal ging wie die meisten regulären Bewohner von Zygote immer noch zu ihrer kleinen Bambushütte, wenn er etwas brauchte, das er bei gewöhnlichen Leuten nicht finden konnte - etwas Trost oder Rat...
Aber recht oft fand er, wenn er das tat, sie und ihre innere Gruppe >in Stille< vor und mußte aufhören zu reden, wenn er bleiben wollte. Manchmal dauerte das tagelang hintereinander, und er kam nicht mehr vorbei. Dann wieder konnte er während der Areophanie aufkreuzen und von dem ekstatischen Rezitieren der Namen des Mars hingerissen werden als ein integraler Teil dieser engen kleinen Schar, mitten im Herzen der Welt, mit Hiroko an seiner Seite, die ihren Arm um ihn gelegt hatte und ihn fest drückte.
Das war wirklich Liebe, und er genoß sie. Aber es war nicht so, wie es in den alten Tagen gewesen war, als sie zusammen am Strand gegangen waren.
Eines Morgens kam er in die Schule und traf in der Garderobe auf Jackie und Harmakhis. Sie sprangen auf, als er eintrat, und bis er seinen Mantel ausgezogen hatte und in das Klassenzimmer gegangen war, hatte er gemerkt, daß sie sich geküßt hatten.
Nach der Schule ging er um den Teich im blauweißen Licht eines Sommernachmittags und sah zu, wie die Wellenmaschine sich hob und senkte wie die beklemmenden Gefühle in seiner Brust. Schmerz durchzog ihn wie die über das Wasser laufenden Schwellungen des Wassers. Er konnte sich nicht dagegen wehren, obwohl es lächerlich war und er das wußte. In diesen Tagen kam es zu vielen Kußszenen im Bad, wenn sie planschten und sich zogen und stießen und kitzelten. Die Mädchen küßten sich gegenseitig und nannten das ein >Übungsküssen<, das nicht zählte. Und manchmal wandten sie sich mit diesen Übungen auch an die Jungen. Nirgal war oft von Rachel geküßt worden und auch von Emily, Tiu und Nanedi; und einmal hatten diese beiden ihn festgehalten und seine Ohren geküßt in einem Versuch, ihn durch eine Erektion im öffentlichen Bad in Verlegenheit zu bringen. Und einmal hatte Jackie sie von ihm weggezogen und ihn in den Unterleib gestoßen und beim Ringen in die Schulter gebissen. Und das waren nur die bemerkenswertesten von Hunderten glitschiger, feuchtwarmer, nackter Kontakte, die das Baden zu einem solchen Höhepunkt des Tages machten.
Aber außerhalb des Bades waren sie, als ob sie sich bemühten, solch flüchtige Kräfte im Zaum zu halten, äußerst formell zueinander. Die Jungen und Mädchen hatten Rotten gebildet, die meistens getrennt spielten. Also stellte das Küssen in der Garderobe etwas Neues und Ernsthaftes dar. Und der Ausdruck, den Nirgal auf den Gesichtern von Jackie und Harmakhis gesehen hatte, war so überlegen, als ob sie etwas wüßten, das er nicht kannte. Und so war es auch. Und dies war es, was ihn verletzte, diese Absonderung und dies Wissen. Zumal er ja keineswegs so unwissend war. Er war sich ziemlich sicher, daß sie beieinander lagen und sich gegenseitig einen runterholten. Sie waren ein Liebespaar. Das verriet ihr Blick. Seine lachende schöne Jackie war nicht mehr die Seine. Und war es eigentlich auch nie gewesen.
In den folgenden Nächten schlief er schlecht. Jackies Zimmer war in dem Bambusstamm neben dem seinen, und das von Harmakhis lag in der entgegengesetzten Richtung zwei weiter; und jedes Knarren der Hängebrücken klang wie Schritte; und bisweilen leuchtete ihr gebogenes Fenster in flackerndem orangefarbenem Licht. Anstatt in seinem Zimmer zu bleiben und sich zu quälen, blieb er nun jede Nacht in den Gemeinschaftsräumen lange auf und las und belauschte die Erwachsenen.
Dort hörte er auch, als sie anfingen, über Simons Krankheit zu sprechen. Simon war Peters Vater, ein ruhiger Mann, der gewöhnlich fort war, auf Expeditionen mit Peters Mutter. Es schien, daß er etwas hatte, das man resistente Leukämie nannte. Vlad und Ursula bemerkten, daß Nirgal lauschte, und suchten ihn zu beruhigen; aber Nirgal merkte, daß sie ihm nicht alles sagten. Später stieg er in sein hoch gelegenes Zimmer, ging zu Bett und stellte sein Notizgerät an. Er sah nach unter >Leukämie< und las die Zuammenfassung am Anfang des Artikels. Eine potentiell tödliche Krankheit, die jetzt gewöhnlich behandelt werden konnte. Potentiell tödliche Krankheit - eine erschütternde
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