Mars-Trilogie 3 - Blauer Mars
nachmittags im Schatten lagen. Das Schmelzwasser von diesem Schnee lief in den schmalen sandigen Betten gewundener Bäche hinunter, um dann gesammelt in einige seichte, schlammige rote Flüsse einzumünden, die sich gerade über dem Candor-Kap sammelten und in wilden, schäumenden Fällen auf den Boden von Melas Chasma stürzten, wo das Wasser vor dem Rest des Gletschers 61 in einen Teich strömte und rötlich gegen seine Nordflanke brandete.
An den Ufern all dieser trüben roten Flüsse bildeten sich Waldgalerien. Sie bestanden zumeist aus kältefesten Balsas und anderen sehr schnell wachsenden tropischen Baumarten, die sich über dem Krummholz in neue Baldachine auswuchsen. In diesen Tagen war es auf dem Canyonboden, der großen windgeschützten, die Sonne reflektierenden Schüssel warm. Die Balsa-Schutzdächer gewährten einer großen Anzahl von Pflanzen- und Tierarten einen Platz, um sich zu entwickeln. Nirgals Bekannte erklärten, daß es sich hierbei um die vielfältigste biotische Gemeinschaft auf dem Mars handele. Wegen der Bären, Schneeleoparden und anderer Raubtiere mußten sie Gewehre mit Betäubungspfeilen mit sich führen. Manche Baumalleen zu durchqueren war schwierig wegen der Dickichte aus Schneebambus und Espen.
All dieses Wachstum war durch große Vorkommen von Natriumnitrat in Candor und Ophir-Canyons - große weiße Terrassenbänke aus extrem wasserlöslichem weißem Salpeter - unterstützt worden. Diese Mineralablagerungen schmolzen jetzt auf den Canyonboden und flössen die Ströme hinab, so daß sie die neuen Böden mit reichlich Stickstoff versorgten. Leider waren einige der größten Nitratvorkommen unter Moränenabgängen begraben worden. Das Wasser, das das Natriumnitrat auflöste, durchfeuchtete auch die Canyonwände und destabilisierte sie durch die radikale Beschleunigung der ständig laufenden Massenabgänge. Niemand begab sich mehr an den Fuß der Canyonwände. Die Flieger sagten, es sei zu gefährlich. Und während sie in ihren Luftgleitern umhersausten, besah sich Nirgal die Narben von Erdrutschen, die überall zu finden waren. Etliche hohe und bewachsene Moränen waren verschüttet worden. Die Verfahren zur Fixierung der Wände gehörten zu den vielen Gesprächsthemen an den Mesa-Abenden, wenn ihnen das Omegandorph ins Blut gegangen war. Man konnte aber wirklich nicht viel tun. Wenn Brocken an einer zehntausend Fuß hohen Felswand nachgeben wollten, würde sie nichts aufhalten. Daher konnte man auf Shining Mesa von Zeit zu Zeit, etwa einmal in der Woche, den Boden erzittern fühlen und beobachteten, wie die Kuppel flimmerte, und in der Magengrube das tiefe Rumpeln eines Zusammenbruchs hören. Oft gelang es, den Bergrutsch zu orten, der sich vor einer bräunlichen Staubwolke durch den Canyon wälzte. Flieger, die sich in der Nähe befunden hatten, kamen erschüttert und schweigend zurück oder gesprächig mit wilden Geschichten, wie sie mit ohrenzerreißendem Getöse über den Himmel geschleudert worden waren. Eines Tages war Nirgal in Bodennähe unterwegs, als er selbst in den Genuß kam. Es war wie ein sonischer Knall, der viele Sekunden anhielt. Die Luft zitterte wie ein Pudding. Dann war es ebenso rasch vorbei, wie es angefangen hatte.
Meistens führte er selbständig Erkundungen durch, und manchmal flog er mit seinen alten Bekannten. Die Luftgleiter waren für den Canyon perfekt, langsam, stabil und leicht zu steuern. Mehr Auftrieb, als nötig war, mehr Energie... Der Apparat, den er - mit von Cojote geliehenem Geld - gemietet hatte, erlaubte ihm, morgens nach unten zu schweben, um bei der botanischen Arbeit in den Wäldern zu helfen oder an den Flüssen spazieren zu gehen. Dann stieg er nachmittags immer weiter in die Höhe. Damit bekam man einen guten Begriff davon, wie hoch Candor Mesa eigentlich war, genau wie die noch höheren umgebenden Wände. Immer weiter hinauf, zur Kuppel, zu seinen langen Mahlzeiten und Partyabenden. Tag für Tag verfolgte Nirgal diese Routine, erkundete die mannigfachen Regionen der Canyons in der Tiefe und beobachtete das überschäumende Nachtleben der Kuppel. Aber er sah alles wie durch das falsche Ende eines Teleskops, eines Teleskops, das aus der Frage bestand: Ist dies das Leben, das wir führen wollen? Diese distanzierende und irgendwie verkleinernde Frage verfolgte ihn immer wieder, erregte ihn, wenn er im Sonnenschein kurvte, und suchte ihn in den schlaflosen Stunden zwischen dem Zeitrutsch und der Dämmerung heim. Der Erfolg der
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