Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mars-Trilogie 3 - Blauer Mars

Mars-Trilogie 3 - Blauer Mars

Titel: Mars-Trilogie 3 - Blauer Mars Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Stanley Robinson
Vom Netzwerk:
ob sie eine neue Nuance erwischen konnten. Aber es kam ihnen nicht auf die Bemerkungen an, die sie auf den Tafeln eintrugen. Keiner von ihnen wäre sicher gewesen, ob die Farben, die sie sahen, wirklich neu waren oder nicht. Sax selbst hatte den Eindruck, daß er seine Ausfälle häufiger erlebte, vielleicht vier bis acht jeden Tag, obwohl er nicht sicher sein konnte. Er machte sich zur Gewohnheit, in seinem Handy ständig eine Aufnahmefrequenz laufen zu lassen, die durch seine Stimme aktiviert wurde; und anstatt zu versuchen, seinen vollen Gedankengang zu beschreiben, sprach er bloß ein paar Worte, von denen er hoffte, daß sie später eine bessere Erinnerung an das auslösen würden, was er gedacht hatte. Am Ende des Tages setzte er sich dann gespannt und hoffnungsvoll hin und hörte ab, was der Computer während des Tages eingefangen hatte. Meistens waren es Gedanken, an die er sich erinnerte. Aber gelegentlich hörte er sich sagen: »Synthetische Melatonine könnten ein besseres Antioxidans sein als natürliche, weil es dann nicht genug freie Radikale gibt«, oder: »Viriditas ist ein fundamentales Mysterium. Es wird nie eine große vereinheitlichte Theorie geben«, ohne daß er sich erinnerte, so etwas gesagt zu haben, und oft nicht einmal daran, was es bedeuten könnte. Aber immerhin waren die Äußerungen manchmal anregend und ihre Bedeutungen auswertbar.
    Und so bemühte er sich weiter. Dabei sah er erneut, so frisch wie in seinen ersten Studienjahren, daß die Struktur der Wissenschaft schön war. Sie war sicherlich eine der größten Leistungen des menschlichen Geistes, eine Art von staunenswertem Parthenon des Geistes, ein Werk in ständigem Fortschritt wie ein symphonisches episches Gedicht aus Tausenden von Versen, das von ihnen allen gemeinsam in einer gigantischen fortdauernden Zusammenarbeit verfaßt wurde. Die Sprache des Epos war Mathematik, weil diese die Sprache der Natur selbst zu sein schien. Es gab keinen anderen Weg; die aufregende Verbindung von Naturerscheinungen war nur mittels mathematischer Ausdrücke großer Komplexheit und Subtilität zu erklären. Und so erkundeten ihre Gesänge in dieser wunderbaren Familie von Sprachen die mannigfachen Manifestationen der Realität auf den verschiedenen Gebieten der Wissenschaft. Jede Disziplin erarbeitete sich ihr Standardmodell, um Dinge zu erklären, die sich alle in einiger Distanz um die Grundlagen der Partikelphysik gruppierten, je nachdem, welches Niveau oder welcher Maßstab untersucht wurde, so daß alle Standardmodelle sich hoffentlich einmal in einer kohärenten größeren Struktur zusammenschlössen. Diese Standardmodelle waren von der Art wie die Paradigmen von Thomas Kuhn, aber in Wirklichkeit (da Paradigmen ja aus einem Vorgang des Modellierens entstanden) elastischer und variabler, ein dialogischer Prozeß, an dem Tausende von Geistern während der vergangenen Jahrhunderte gearbeitet hatten. Darum waren Gestalten wie Newton oder Einstein oder Vlad nicht die isolierten Riesen, als die sie der Öffentlichkeit erscheinen, sondern nur die höchsten Gipfel einer großen Gebirgskette, wie Newton selbst es klar zu machen versucht hatte mit seiner Bemerkung, daß er auf den Schultern von Riesen stünde. In Wahrheit war das Werk der Wissenschaft eine Gemeinschaftsarbeit, die noch vor die Geburt der modernen Wissenschaft zurückreichte, bis hin zur Vorgeschichte, wie Michel immer betont hatte. Ein ständiger Kampf um Erkenntnis. Jetzt war sie natürlich sehr strukturiert und gegliedert, um über die Fähigkeit jedes einzelnen Individuums hinaus alles zu erfassen.
    Aber das beruhte nur auf ihrer erdrückenden Quantität. Die eindrucksvolle Blüte der Struktur war durchaus nicht besonders unverständlich. Man konnte immer noch gewissermaßen irgendwo innerhalb dieses Parthenons spazieren gehen und damit wenigstens die Gestalt des Ganzen erfassen und sich aussuchen, wo man studieren und einen Beitrag leisten wollte. Man konnte zuerst den Dialekt der für die Untersuchung relevanten Sprache erlernen, was an sich schon ein gewaltiges Unterfangen war, etwa wie in der Theorie der Superstrings oder des stufenweise rekombinierenden Chaos. Danach konnte man die Sekundärliteratur durchsehen in der Hoffnung, das synkretistische Werk von jemandem zu finden, der lange an der vordersten Front gearbeitet hatte und imstande war, eine kohärente Darstellung für Außenstehende über den Stand des Feldes zu geben. Diese Arbeit, die als >graue Literatur<

Weitere Kostenlose Bücher