Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea
sein. Die letzten.
Der Hafen war von ernsthaftem Interesse für die Immobilienhaie. Zweihundert Hektar Baufläche waren eine echte Goldgrube. Sie träumten von der Verlegung des Hafens nach Fos und von einem neuen Marseille am Meer. Die Architekten waren schon am Werk, und das Projekt ging gut voran. Ich konnte mir Marseille ohne seine Hafenbecken, alten Lagerhallen und Schiffe nicht vorstellen. Ich liebte die Schiffe. Die richtigen, großen. Ich sah ihnen gern zu. Jedes Mal versetzte es mir einen Stich ins Herz. Die Ville de Naples lief aus, hell erleuchtet. Ich stand am Kai. In Tränen aufgelöst. Meine Cou - sine Sandra war an Bord. Mit ihren Eltern und ihren Brüdern hatte sie einen Zwischenstopp von zwei Tagen in Marseille gemacht. Sie führen wieder nach Buenos Aires zurück. Ich liebte Sandra. Ich war neun Jahre alt. Ich habe sie nie wieder gesehen, sie hat mir nie geschrieben. Zum Glück war sie nicht meine einzige Cousine.
Die Fähre war in das große Joliette-Hafenbecken hinausgefahren. Sie glitt hinter die Kathedrale La Major. Die untergehende Sonne verlieh dem grauen, von Dreck strotzenden Stein ein wenig Wärme. Um diese Tageszeit zeigte La Major mit ihren byzantinischen Run - dungen ihre wahre Schönheit. Danach wurde sie wieder, was sie immer war: ein eitler Protzbau des Second Empire. Ich folgte der Fähre mit den Augen. Sie bewegte sich langsam. Sie lag jetzt parallel zum Damm Sainte-Marie. Vor sich die unendliche Weite. Für die Touristen, die einen Tag, vielleicht eine Nacht als Zwischenstation in Marseille verbracht hatten, begann die Überfahrt. Morgen früh würden sie in Korsika sein. Von Marseille würden sie den Alten Hafen in Erinnerung behalten. Notre-Dame— de-la-Garde, die über ihn wacht. Die Comiche vielleicht. Und das Schloss im Pharo-Park, das sie jetzt auf ihrer Linken entdecken würden.
Marseille ist keine Stadt für Touristen. Es gibt dort nichts zu sehen. Seine Schönheit lässt sich nicht fotografieren. Sie teilt sich mit. Hier muss man Partei ergreifen. Sich engagieren. Dafür oder dagegen sein. Leidenschaftlich sein. Erst dann wird sichtbar, was es zu sehen gibt. Und dann ist man, wenn auch zu spät, mitten in einem Drama. Einem antiken Drama, in dem der Held der Tod ist. In Marseille muss man sogar kämpfen, um zu verlieren.
Die Fähre war nur noch ein dunkler Punkt in der untergehenden Sonne. Ich war zu sehr Polizist, um mich an die Realität zu klammern. Dinge entglitten mir. Woher wusste Ugo so schnell über Zucca Bescheid? Steckte Zucca wirklich hinter dem Mord an Manu? Warum? Und warum hatte Argue Ugo gestern Abend nicht ge - schnappt? Oder heute Morgen? Und wo war Lole zu der Zeit?
Lole . Wie Manu und Ugo hatte auch ich sie nicht aufwachsen und zur Frau heranreifen sehen. Dann hatte ich sie, wie die beiden, geliebt. Aber ohne Anspruch auf sie erheben zu können. Ich war nicht aus dem Panier-Viertel. Ich war dort geboren, aber als ich zwei Jahre alt war, zogen meine Eltern hinunter nach La Capelette, ins Italienerviertel. Lole war ein guter Kumpel, und das war schon viel wert. Mein Glück waren Manu und Ugo. Mit ihnen befreundet zu sein.
Ich hatte noch Familie im Viertel, Rue des Cordelles. Zwei Cousins und eine Cousine. Angele. Gélou war schon groß, fast siebzehn. Sie kam uns oft besuchen. Sie half meiner Mutter, die schon damals kaum noch aufstand. Danach musste ich sie nach Hause bringen. Es war damals zwar nicht gefährlich, aber Gélou kehrte nicht gern allein zurück. Mir machte es Spaß, mit ihr spazieren zu gehen. Sie war schön, und ich war ziemlich stolz, wenn sie sich bei mir ein - hakte. Schwierig wurde es, wenn wir an der Montée-des-Accoules ankamen. In dieses Viertel ging ich nicht gern. Es war schmutzig, es stank. Ich schämte mich. Und vor allem hatte ich Schiss. Nicht mit ihr, aber auf dem Rückweg, al lein. Gélou wusste das und machte sich darüber lustig. Ich wagte nicht, ihre Brüder zu bitten, mich zurückzubringen. Ich kehrte fast im Laufschritt zurück. Den Blick gesenkt. An der Ecke der Rue Panier und der Rue des Muettes lungerten oft Typen in meinem Alter herum. Ich konnte sie lachen hören, wenn ich vorbeilief. Manchmal pfiffen sie mir nach, wie einem Mädchen.
Eines Abends im Spätsommer gingen Gélou und ich die Rue des Petits-Moulins hinauf. Arm in Arm. Wie ein Liebespaar. Ihre Brust streifte meinen Handrücken. Das berauschte mich. Ich war glück - lich. Dann bemerkte ich sie, alle beide. Ich war ihnen schon öfter über den Weg
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