Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea
die auf See, Félix. Man weiß nie, ob sie tot oder lebendig sind.«
Wie wir, dachte ich und trank mein Glas aus. Damit Félix nachfüllte.
Was er natürlich eilig tat.
Siebtes Kapitel
In dem empfohlen wird, den schwarzen
und den wei ß en Faden zu entwirren
Ich war spät nach Hause gekommen, hatte nicht wenig getrunken, zu viel geraucht und schlecht geschlafen. Der Tag konnte nur scheußlich werden.
Dabei war prächtiges Wetter, wie es das nur hier im September gibt. Hinter dem Lubéron oder den Alpilles war schon Herbst. In Marseille behält der Herbst manchmal bis Ende Oktober einen sommerlichen Beigeschmack. Schon die leiseste Brise belebt die Thymian-, Minze-und Basilikumdüfte.
So roch es heute Morgen. Nach Minze und Basilikum. Loles Düfte. Ihr Liebesduft. Ich fühlte mich plötzlich alt und müde. Und traurig. Aber so geht es mir immer, wenn ich zu viel getrunken, zu viel geraucht und schlecht geschlafen habe. Ich konnte mich nicht dazu aufraffen, das Boot rauszuholen. Ein schlechtes Zeichen. Das war mir schon lange nicht mehr passiert. Sogar nach Loles Abschied war ich weiter aufs Meer gefahren.
Es war lebensnotwendig für mich, jeden Tag diesen Abstand zu den Menschen zu gewinnen. In der Abgeschiedenheit neue Kraft zu schöpfen. Fischen war nebensächlich. Nur eine Huldigung an diese unendliche Weite. Dort draußen lernte man wieder Bescheidenheit. Und ich kam immer voller Liebe zu den Menschen an Land zurück.
Lole wusste das und noch so manches andere, das ich ihr nie erzählt hatte. Sie erwartete mich zum Essen auf der Terrasse. Dann legten wir Musik auf und liebten uns. So lustvoll wie beim ersten Mal. Genauso leidenschaftlich. Unsere Körper schienen für diese Feste geboren zu sein. Das letzte Mal hatten wir unsere Zärtlichkeiten bei Yo no puedo vivir sin ti begonnen. Einem Album der Zi geu - ner aus Perpignan. Cousins von Lole . Danach sagte sie mir, dass sie gehen wolle. Sie brauchte das »Woanders« wie ich das Meer.
Ich stellte mich mit einem kochend heißen Kaffee in der Hand vor das Meer und ließ meinen Blick in die Ferne schweifen. Dorthin, wo nicht mal die Erinnerungen Zugang haben. Dort, wo sich alles auflöst. Am Leuchtturm von Planier, zwanzig Seemeilen von der Küste entfernt.
Warum war ich nicht für immer fortgegangen? Warum wurde ich in dieser schäbigen Hütte alt und sah den Frachtern nach? Natür - lich, Marseille gab den Ausschlag. Ob man hier geboren oder eines Tages gelandet ist ‒ in dieser Stadt bekommt man schnell Blei an den Füßen. Man reist lieber mit dem Blick des anderen. Der zurück - kommt, nachdem er dem Schlimmsten ausgesetzt war. Wie Odys - seus. Odysseus ist hier beliebt. Und die Marseiller haben ihre Ge - schichte über die Jahrhunderte immer neu gestrickt, wie die arme Penelope. Die Tragödie heute ist, dass die Stadt gar nicht mehr nach dem Orient schaut, sondern nur noch auf den Abglanz ihrer eigenen Geschichte.
Ich war genauso. Und was ich dort sah, war verschwindend gering. An Stelle der Illusionen war vielleicht ein Lächeln getreten. Von meinem Leben hatte ich nichts verstanden, so viel stand fest. Der Leuchtturm von Planier lotste die Schiffe übrigens nicht mehr. Er war geschlossen. Aber dieses Jenseits der Meere war mein einziger Glauben.
Ich komme zurück, um tief im Inneren der Schiffe zu stranden ...
Dieser Vers von dem Marseiller Dichter Louis Brauquier, meinem Lieblingsdichter, kam mir in den Sinn. Ja, sagte ich mir, wenn ich tot bin, gehe ich an Bord dieses Frachters, der mich zu den Träumen meiner Kindheit bringt. Endlich in Frieden. Ich trank meinen Kaffee aus und ging zu Fonfon.
Als ich Félix um ein Uhr morgens verließ, hatte niemand an meinem Wagen auf mich gewartet. Mir war auch niemand gefolgt . Ich bin nicht ängstlich, aber hinter Madrague-de-Montredon im äußersten Südosten der Stadt wird die Straße in Richtung Les Goudes nachts ziemlich furchteinflößend. Eine wahre Mondlandschaft und ebenso verlassen. Die bebauten Grundstücke enden an der Bucht von Samena. Danach ist nichts mehr. Die schmale, serpentinenreiche Straße führt einige Meter über den Klip pen am Meer entlang. Die dr ei Kilometer waren mir noch nie s o lang erschienen. Ich hatte es eilig, nach Hause zu kommen.
Gélou schlief bei brennender Nachttischlampe. Sie musste auf mich gewartet haben. Sie lag zusammengerollt wie ein Igel im Bett und krallte sich mit der rechten Hand am Kopfkissen fest wie an einer Rettungsboje. Ihr Schlaf war wie ein
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