Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea
durchgeschüttelt.
Tilt.
Gélou stand vor mir. Mit verschlafenen Augen. »Alles in Ordnung?«, fragte sie besorgt. »Du hast geschrien.«
»Alles okay. Ein Albtraum. Das kommt vor, wenn ich auf diesem verfluchten Sofa schlafe.«
Sie schaute die Whiskyflasche und mein leeres Glas an. »Und es mit einer Überdosis Alkohol versuchst.«
Ich zuckte die Schultern und setzte mich auf. Mit dickem Kopf. Zurück auf der Erde. Es war vier Uhr morgens.
»Tut mir Leid.«
»Leg dich zu mir. Dann gehts dir besser.«
Sie reichte mir die Hand und zog mich hoch. So sanft und warm wie mit achtzehn. Sinnlich und mütterlich. Sicher kannte Guitou die Zärtlichkeit dieser Hände, wenn sie seine Wangen streichelten, als sie ihm einen Kuss auf die Stirn gab. Was war zwischen den beiden schiefgelaufen? Warum, zum Donnerwetter!
Im Bett drehte Gélou sich um und war sofort wieder eingeschlafen. Ich wagte nicht, mich zu rühren, aus Angst, sie erneut auf - zuwecken.
Als wir das letzte Mal zusammen geschlafen hatten, waren wir wohl zwölf Jahre alt. Im Sommer traf sich die Familie fast jeden Samstagabend hier in Les Goudes. Wir Kinder wurden zum Schlafen alle zusammen auf eine Matratze auf der Erde gepackt. Gélou und ich waren die Ersten im Bett. Wir lauschten dem Lachen und Singen unserer Eltern und schliefen Händchen haltend ein. Von Maruzzella, Guaglione und anderen durch Renato Carosone bekannt gewordenen neapolitanischen Liedern in den Schlaf gewiegt.
Später, als meine Mutter krank wurde, kam Gélou zwei oder drei Abende die Woche zu uns nach Hause. Sie wusch, bügelte und bereitete die Mahlzeiten. Sie war knapp sechzehn. Kaum lagen wir im Bett, kuschelte sie sich an mich und wir erzählten uns Horrorgeschichten. Zum Fürchten. Dann schob sie ihr Bein zwischen meine und wir hielten uns noch fester. Ich spürte ihren schon wohlge - formten Busen ganz hart auf meiner Brust. Das erregte mich wahn - sinnig. Sie wusste es. Aber natürlich sprachen wir nicht über diese Dinge, die noch Sache der Großen waren. Und so schliefen wir ein, im Gefühl der Zärtlichkeit und Sicherheit.
Ich drehte mich vorsichtig zur Seite, um diese zerbrechlichen Erinnerungen wieder an ihren Platz zu verbannen. Den Wunsch zu verdrängen, meine Hand auf ihre Schulter zu legen und sie in meine Arme zu nehmen. Wie früher. Nur um unsere Angst zu verjagen.
Ich hätte es tun sollen.
Fonfon fand, ich sah fürchterlich aus. »Ja«, sagte ich, »man kann sich sein Aussehen nicht immer aussuchen.«
»Oh, und schlecht geschlafen haben Monsieur auch.«
Ich lächelte und setzte mich auf die Terrasse. An meinen angestammten Platz. Mit Blick aufs Meer. Fonfon kam mit einer Tasse Kaffee und dem Provençal zurück. »Da! Ich hab ihn dir stark gemacht. Ich weiß nicht, ob er dich aufweckt, aber vielleicht macht er dich wenigstens etwas menschenfreundlicher.«
Ich schlug die Zeitung auf und machte mich auf die Suche nach einem Artikel über den Mord an Serge. Sie hatten ihm nur eine kurze Notiz gewidmet. Kein Kommentar, keine Einzelheiten. Es wurde nicht einmal erwähnt, dass Serge mehrere Jahre als Gassenarbeiter in den Vorstädten gearbeitet hatte. Er wurde als »ohne Beruf« eingestuft, und der Artikel endete mit der lakonischen Bemerkung: »Die Polizei neigt zu der Auffassung, es handle sich um eine Abrechnung zwischen Ganoven.« Pertin hatte sich offensicht - lich so knapp wie möglich gefasst. Wegen einer Geschichte unter Ganoven würde keine Untersuchung eingeleitet werden . Das hieß es im Klartext, Pertin behielt den Fall für sich. Wie einen Knochen, an dem er sich die Zähne wetzen konnte. Der Knochen war wahr - scheinlich ganz einfach ich.
Ich blätterte automatisch um, während ich aufstand, um die Marseillaise zu holen. Die fette Schlagzeile oben auf Seite 5 ließ mich zur Salzsäure erstarren: »Doppelmord im Panier: Halbnackte Leiche eines nicht identifizierten jungen Mannes.« In einem Kasten in der Mitte des Artikels: »Der Eigentümer des Hauses, der Architekt Adrien Fabre, ist fassungslos.«
Ich setzte mich, benommen. Vielleicht war es nur ein Zusammentreffen von Zufällen. Das redete ich mir jedenfalls ein, um den Artikel ohne Zittern lesen zu können. Ich hätte mein Leben gegeben, um die Zeilen vor meinen Augen nicht sehen zu müssen. Denn ich wusste, was ich dort finden würde. Eine Gänsehaut lief mir über den Rücken. Der bekannte Architekt Adrien Fabre beherbergte seit einer Weile den algerischen Historiker Hocine Draoui, Spezialist für
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