Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea
‒ hab nicht alles gelesen. Weil ich mit Arabern nichts zu tun hab. Mit Islam und so G eschichten. Von mir aus können die allesamt verrecken! Aber da si nd Listen mit Namen und Adressen. Viertel für Viertel. Wie ein Netz, verstehst du. Falsche Papiere. Kohle. Dope. Waffen. Ich geb dir das Heft, und du verpisst dich. Warst nie hier. Hast nichts gesehen. Nicht wahr, wir kennen uns nicht, wir zwei.«
Ich hatte vermutet, dass ein Notizbuch existierte. Ich weiß nicht, was Serge ausheckte, aber ich kannte ihn. Er war gewissenhaft. Während unserer gemeinsamen Arbeit hatte er alles aufgeschrieben. Tag für Tag.
»Hast du es immer noch nicht kapiert, Saadna? Ich hau dir eins auf die Rübe, und du sagst mir, wo das verdammte Heft ist.«
»Das traust du dich ja doch nicht, Montale. Weil du Schiss vor deinem eigenen Hass hast. Mit deiner Kaltblütigkeit ist es nicht weit her. Mach doch, schlag zu ...« Er streckte mir sein Bein hin.
Ich vermied es, ihm in die Augen zu sehen. »Wo ist dieses Heft?«
»Schwöre. Bei deinen Alten.«
»Wer sagt, dass mich dein Heft interessiert?«
»Verdammt! Das ist ein Adressbuch. Du liest es, verstehst du, und dann machst du damit, was du willst. Friss es oder verkauf es. Ich sag dir, mit dem Ding kriegst du sie alle. Die blechen schon für eine einzige rausgefetzte Seite!«
»Wo ist es? Ich schwöre: Danach hau ich ab.«
»Hast du mal ne Kippe?«
Ich zündete eine Zigarette an und steckte sie ihm zwischen die Lippen. Er sah mich an. Natürlich konnte er mir nicht hundertprozentig trauen. Und ich war mir nicht sicher, ob ich ihn nicht mitsamt seinen Reifen in eine Tonne stecken wollte.
»Nun?«
»In der Tischschublade.«
Es war ein dickes Heft. Die Seiten waren von Serges feiner, enger Schrift bedeckt. Ich las aufs Geratewohl: »Die Radikalen schöpfen die Möglichkeiten der von der Stadtverwaltung vernachlässigten sozialen Einrichtungen voll aus. Sie schieben humanitäre Zwecke vor, Freizeitgestaltung, Nachhilfe oder Arabischunterricht ...« Und, weiter unten: »Die Zielsetzung dieser Agitatoren geht weit über den Kampf gegen die Drogensucht hinaus. Sie wollen einen städtischen Guerillakrieg.«
»Na, zufrieden?«, fragte Saadna.
Die zweite Hälfte des Heftes glich einem Verzeichnis. Die erste Seite begann mit folgendem Kommentar: »Die nördlichen Viertel quellen über vor jungen Beurs, die bereit sind, Kamikaze zu machen. Ihre Drahtzieher sind der Polizei bekannt (siehe Abdelkader). Über ihnen sitzen weitere Köpfe. Viele.«
Ein einziger Name aus Bigotte: Redouane. Serges Angaben stimmten mit dem überein, was Mourad mir erzählt hatte. Aus - führlicher . Mit allem, was Redouane seinem Bruder nicht anvertraut hatte.
Redouanes Paten in den nördlichen Vierteln waren Nacer und ein gewisser Hamel. Beide, so ging aus den Aufzeichnungen hervor, kampferprobte Extremisten. Seit 1993. Vorher waren sie beim Ordnungsdienst der islamischen Jugendbewegung. Hamel war sogar für die Sicherheit bei dem großen Meeting zur Unterstützung Bosniens in La Plaine-Saint-Denis zuständig gewesen.
In einem Ausschnitt eines Artikels aus dem Nouvel Observateur wurde über dieses Meeting berichtet: »Auf der Tribüne finden wir den Kulturattache der iranischen Botschaft und den algerischen Intellektuellen Rachid Ben Aïssa, Sympathisant der Algerischen Bruderschaft in Frankreich. Rachid Ben Aïssa ist nicht irgendwer. In den Achtzigerjahren hat er zahlreiche Tagungen im iranischislamischen Zentrum in der Rue Jean-Bart in Paris veranstaltet. Dort wurden die meisten Mitglieder des terroristischen Netzes angewor - ben, das von Fouad Ali Salah geleitet wurde, der für die Pariser At - tentate von 1986 verantwortlich war.«
Bevor Redouane mit der »Siebten Internationalen Brigade der Moslemischen Brüder« nach Sarajevo ging, hatte er an einem Uberlebenstraining am Fuß des Mont Ventoux teilgenommen.
Ein gewisser Rachid (Rachid Ben Aïssa?, fragte Serge sich) küm - merte sich um die Organisation und Unterbringung in Landferien - häusern im Dorf Bédoin am Fuß des Mont Ventoux. »Wer dieses Training mitgemacht hat«, führte er aus, »kann nicht mehr zurück. Abweichler werden bedroht. Das Schicksal, das Verrätern in Alge - rien blüht, wird mit Hilfe von Fotos veranschaulicht. Fotos von Männern, die wie Hammel abgeschlachtet wur den.« Serges Anga - ben zufolge finden diese Kommando-Schulungen viermal im Jahr statt.
»Ein gewisser Arroum hat die jungen Rekruten nach Bosnien begleitet.
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