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Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea

Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea

Titel: Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Claude Izzo
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Reportagen. Nach Jahreszahlen geordnet. Das war unverkennbar Babettes Werk. Die ihr eigene Arbeitsweise. Die Arbeit einer Journalistin. Ich musste lächeln. Und ertappte mich dabei, wie ich die Seiten rückwärts durchblätterte. Bis zu jenem Tag im März 1988, an dem sie mich wegen des Interviews aufgesucht hatte.
    Ihr Artikel war da. Eine gute halbe Seite mit meinem Foto in der Mitte über zwei Spalten.
    »Die übliche Gesichtskontrolle bringt nichts«, hatte ich auf ihre erste Frage geantwortet. »Sie trägt unter anderem dazu bei, die Revolte unter einem Teil der Jugendlichen zu schüren. Bei denen, die am meisten unter gesellschaftlichen Missständen zu leiden haben. Die Schikanen der Polizei legitimieren oder rechtfertigen somit die Gewaltbereitschaft. Sie tragen also dazu bei, dass es einen ständigen Zustand der Revolte gibt und immer mehr Bezugspunkte verloren gehen.
    Einige junge Leute entwickeln ein Gefühl der Allmacht. Sie erkennen keine Autorität mehr an und wollen in den Vorstädten ihr eigenes Gesetz schaffen. Die Polizei ist in ihren Augen ein Auswuchs dieser Autorität. Aber um das Verbrechen effektiv zu bekämpfen, müssen die Beamten sich selbst untadelig verhalten. Rap ist zu einer Ausdrucksform der Jugendlichen in den Vorstädten geworden, weil er in erster Linie das erniedrigende Verhalten der Polizei anprangert. Das zeigt, dass wir völlig auf dem Holzweg sind.«
    Meine Vorgesetzten waren über meine Ausführungen nicht gerade begeistert gewesen. Aber sie hatten den Mund gehalten. Sie kannten meine Ansichten. Gerade deshalb hatten sie mich zum Leiter der Brigade zur Überwachung sicherheitsgefährdeter Gebiete in den nördlichen Vorstädten Marseilles ernannt. Die Polizei hatte sich in kurzer Zeit zwei gravierende Fehler geleistet. Bei einer banalen Personenkontrolle hatten sie den siebzehnjährigen Lahaouri Ben Mohamed niedergeschossen. Die Vorstädte waren in Aufruhr. Einige Monate später, im Februar, musste Christian Dovero, der Sohn eines Taxifahrers, dran glauben. Diesmal tobte die ganze Stadt. »Ein Franzose, Scheiße!«, hatte mein Chef gewettert. Die Gemüter mussten dringend beruhigt werden. Und zwar bevor die General - inspektion aus Paris, die Polizei der Polizei, auf der Bildfläche erschien. Im Polizeipräsidium brütete man ein neues Konzept aus. Andere Methoden sollten angewandt, andere Töne angeschlagen werden. Als Allheilmittel zauberten sie mich aus dem Ärmel. Den Wundermann.
    Es hatte seine Zeit gedauert, bis ich merkte, dass ich nur eine Marionette war, die man vorführte, bis die guten alten Methoden wieder eingesetzt wurden. Demütigungen, Schläge ins Gesicht, Durchmöbeln. Alles zur Befriedigung derer, die laut nach Sicherheit schrien.
    Heute war man zu diesen guten alten Methoden zurückgekehrt. Mit zwanzig Prozent der Belegschaft, die Front National wählten. Die Lage in den nördlichen Vierteln hatte sich wieder angespannt. Sie spitzte sich täglich zu. Man brauchte nur jeden Morgen die Zeitung aufzuschlagen. Verwüstete Schulen in Saint— André, Angriffe auf Ärzte im Nachtdienst in La Savine oder städtische Angestellte in La Castellane, bedrohte Nachtbusfahrer. Dazu die im Verborgenen zunehmende Verbreitung von Heroin, Crack und all diesen Schweinereien, die den Jungs der Vorstädte Mut einimpften. Und den Verstand raubten. »Die beiden großen Plagen von Mar - seille«, grölten die Rapper der Marseiller Gruppe IAM unaufhörlich, »sind Heroin und Front National.« Alle, die mit Jugendlichen zu tun hatten, spürten die Explosion nahen.
    Ich hatte gekündigt, obwohl ich wusste, dass es keine Lösung war. Aber die Polizei lässt sich nicht von heute auf morgen ändern, weder in Marseille noch anderswo. Als Polizist war man immer Teil eines Geschehens, ob man wollte oder nicht. Die Massenverhaftung der Juden im »Vel' d'Hiv«. Das Massaker an den Algeriern im Oktober 1961, die einfach in die Seine geworfen wurden. All diese Sachen. Mit Verspätung zugegeben. Und noch nicht offiziell. All diese Vorgänge beeinflussten die tägliche Vorgehensweise nicht weniger Polizisten, sobald sie es mit jungen Leuten aus Einwan - dererfamilien zu tun hatten.
    So dachte ich. Schon lange. Und ich war abgeglitten, um den Ausdruck meiner Kollegen aufzugreifen. Weil ich zu sehr verstehen wollte. Erklären. Überzeugen. »Der Pädagoge« nannten sie mich auf dem Bezirksrevier. Als man mich meiner Ämter enthoben hatte, hatte ich meinem Chef auseinander gesetzt, dass es ein

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