Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea
gefährlicher Weg sei, das subjektive Gefühl der Unsicherheit zu fördern, statt objektiv die Schuldigen festzunehmen. Er hatte kaum merklich gelächelt. Was ich meinte, war ihm scheißegal.
Zugegeben, ich hatte auch andere Vorschläge vonseiten unserer derzeitigen Regierung gehört. Dass Sicherheit nicht nur eine Frage der Personalstärke oder Mittel ist, sondern auch der Methode. Es beruhigte mich ein wenig, zu hören, dass das Sicherheitsdenken keine Ideologie war, sondern nur eine Reaktion auf die soziale Wirklichkeit. Aber es war zu spät für mich. Ich war aus der Polizei ausgeschieden, und auch wenn ich nichts anderes gelernt hatte, würde ich den Dienst nie wieder aufnehmen.
Ich zog den Artikel aus seiner Plastikhülle und faltete ihn auseinander. Ich wollte ihn ganz überfliegen. Ein einzelnes fast leeres, vergilbtes Blatt Papier rutschte heraus. Babette hatte geschrieben: »Montale. Sehr charmant und intelligent.« Ich lächelte. Durchtrie -- benes Luder! Nach Erscheinen des Interviews hatte ich sie angeru - fen. Um ihr für die getreue Wiedergabe meiner Worte zu danken. Sie hatte mich zum Essen eingeladen. Zweifellos hatte sie schon ihre Hintergedanken gehabt. Und, warum es leugnen, ich hatte besonders gern zugesagt, weil Babette zum Vernaschen war. Aber ich war weit von der Vorstellung entfernt, eine junge Journalistin könnte einen nicht mehr ganz jungen Polizisten verführen wollen.
Ja, gab mein Ego zu, als ich mein Foto noch einmal betrachtete, ja, charmant, dieser Montale. Ich zog ein Gesicht. Das war lange her. Fast zehn Jahre. Seitdem waren meine Züge plumper und schwer - fälliger geworden, und in den Augenwinkeln und entlang der Wan - gen hatten sich Falten eingegraben. Je mehr Zeit verging, während der ich jeden Morgen in den Spiegel sah, desto ratloser wurde ich. Ich wurde älter, das war normal, aber ich fand, dass ich schlecht alterte. Eines Abends hatte ich Lole von meinen Sorgen erzählt.
»Was fällt dir noch alles ein«, hatte sie geantwortet.
Mir fiel nichts ein.
»Findest du, ich sehe gut aus?«
Ich weiß nicht mehr, was sie darauf gesagt hat. Nicht einmal, ob sie überhaupt geantwortet hat. Innerlich war sie schon fortgegangen. Zu einem neuen Leben. Zu einem anderen Mann, irgend - wo. Ein neues, schönes Leben. Ein anderer, schöner Mann.
Später hatte ich ein Foto ihres Freundes in einer Zeitschrift gesehen ‒ nicht einmal in Gedanken wagte ich den Namen dieses Mannes auszusprechen -, und ich fand, er sah gut aus. Schlank und rank, hageres Gesicht, strubbelige Haare, lachende Augen und ein hübscher Mund — etwas zu sehr Hühnerpopo für meinen Geschmack ‒ , aber trotzdem hübsch. Das Gegenteil von mir. Ich hatte das Foto gehasst, besonders wenn ich mir vorstellte, dass Lole es anstelle meines Bildes in ihre Brieftasche gesteckt haben könnte. Die Vorstellung machte mich ganz krank. Eifersucht, hatte ich mir gesagt, und dabei hasste ich dieses Gefühl. Eifersucht, ja. Es gab mir einen gemeinen Stich ins Herz, wenn ich daran dachte, dass Lole dieses Foto oder ein anderes aus ihrer Brieftasche ziehen könnte, um es anzusehen, wenn er sich ein paar Tage oder auch nur einige Stunden von ihr entfernte.
Es war eine dieser verrückten Nächte, in denen jede Kleinigkeit im Bett eine überdimensionale Größe annimmt, in der man nicht mehr klar denken, verstehen, eingestehen kann. Ich hatte das schon öfter mit anderen Frauen gehabt. Aber nie so schmerzhaft. Als Lole ihre Koffer packte, war der Sinn meines Lebens mit entschlüpft. Auf und davon.
Mein Foto sah mich an. Ich hatte Lust auf ein Bier. Wir sind nur in den Augen des anderen schön. Desjenigen, der dich liebt. Eines Tages kann man dem anderen nicht mehr sagen, er ist schön, weil die Liebe abhanden gekommen ist und er nicht mehr begehrenswert ist. Man kann sein bestes Hemd anziehen, sich die Haare schneiden, einen Schnurrbart wachsen lassen, es hilft alles nichts. Man bekommt allenfalls ein »Das steht dir gut« zu hören, aber nicht das sehnsüchtig erhoffte »Du siehst gut aus«, das Versprechen von Lust und zerwühlten Laken.
Ich steckte den Artikel wieder in seine Hülle und schloss den Ordner. Jetzt erstickte ich. Vor dem Spiegel im Flur klang Sonias Lachen mir für einen Moment im Ohr. Hatte ich trotz allem noch Charme? Eine Zukunft ohne Liebe? Ich schnitt mir eine Grimasse, ein kleiner Trick von mir. Dann machte ich kehrt, um Babettes Aktenordner mitzunehmen. Ihre Berichte werden mich auf andere Gedanken
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