Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea
wird. Das ist ein Aussichtspunkt, an dem Gabriele D'Annunzio sich oft aufge - halten hat ...«
Sie hatte angefangen, von Italien zu erzählen. Den Abruzzen, ihrer Heimat. Von diesem Platz an der Küste zwischen Ortona und Vasto, der für sie »einmalig auf der Welt« war. Sonia war unerschöpflich, und ich hatte ihr zugehört, hatte ihre Freude mit demselben Glücksgefühl von mir Besitz ergreifen lassen wie den Anis, den ich, ohne es noch zu merken, immer weiter hinunterkippte.
» Turchino heißt der Strand, an dem ich als Kind meine Sommer verbracht habe. Turchino, von der Farbe seines türkisfarbenen Wassers ... Er ist voller Kieselsteine und Bambus. Aus den Blättern kann man kleine Boote basteln oder Angeln aus den Stäben, verstehst du ...«
Ich verstand, ja. Und ich konnte es nachempfinden. Wie das Wasser auf der Haut perlte. So sanft. Und das Salz. Der Geschmack von salzigen Körpern. Ja, ich konnte das alles sehen, als stünde es vor mir. Wie Sonias nackte Schulter. Genauso rund und weich zu streicheln wie die vom Meer geschliffenen Kieselsteine. Sonia.
»Und dann ist da eine Eisenbahnlinie, die bis nach Foggia runtergeht ...«
Sie sah mich zärtlich an. Eine Einladung, in diesen Zug zu steigen und uns zum Meer tragen zu lassen. An den Turchino.
»Das Leben ist dort unten sehr einfach, Fabio. Nur im Rhythmus des Lärms vorbeifahrender Züge, des Meeresrauschen, der Pizza - ecken attaglio zum Mittagessen und«, hatte sie lachend hinzugefügt, » una gerla alla stracciatella per me am Abend ... «
Sonia.
Ihre fröhliche Stimme. Ihre Worte, wie eine Flut von Lebensfreude.
Ich war zuletzt als Neunjähriger in Italien gewesen. Mein Vater hatte mich und meine Mutter in sein Dorf mitgenommen. Castel San Giorgio, bei Salerno. Er wollte seine Mutter noch ein letztes Mal sehen. Er wollte, dass seine Mutter das Kind sah, das ich war. Das hatte ich Sonia erzählt. Und dass ich den größten Wutanfall meines Lebens hatte, weil ich es leid war, jeden Tag mittags und abends Nudeln zu essen.
Sie hatte gelacht.
»Das würde ich heute gern tun. Meinen Sohn mit nach Italien nehmen. Nach Foggia. Wie dein Vater es mit dir gemacht hat.«
Ihre grau-blauen Augen hatten langsam zu mir emporgesehen. Wie das Morgengrauen. Sonia war gespannt auf meine Reaktion. Ein Sohn. Wie konnte ich nur vergessen, dass sie von ihrem Sohn gesprochen hatte? Enzo. Wieso war es mir nicht mal eingefallen, als die Flics mich befragt hatten? Was hatte ich nicht hören wollen, als sie sagte: »Mein Sohn«?
Ich hatte mir nie ein Kind gewünscht. Von keiner Frau. Aus Angst, kein guter Vater sein zu können. Nicht aus mangelnder Liebe, sondern weil ich nicht genug Vertrauen in die Welt, die Menschen, die Zukunft vermitteln konnte. Ich sah keine Zukunft fü r die Kinder von heute. Zweifellos hatten zu viele lange Jahre bei der Polizei meine Sicht der Gesellschaft verändert. Ich hatte mehr Jungs bei Drogen, erst kleinen, dann großen Einbrüchen und schließlich im Gefängnis landen sehen als auf dem Weg zum Erfolg. Selbst diejenigen, die gern zur Schule gingen und gute Noten nach Hause brachten, fanden sich eines Tages in der Sackgasse wieder. Dort rannten sie entweder mit dem Kopf gegen die Wand, bis sie daran krepierten, oder sie machten kehrt, um sich zu stellen, und bäumten sich gegen diese Ungerechtigkeit auf, die man ihnen antat. Womit wir wieder bei Gewalttätigkeit und Waffen wären. Und im Knast.
Die einzige Frau, von der ich gern ein Kind gehabt hätte, war Lole . Aber wir hatten uns darauf geeinigt, dass wir keins wollten. Zu alt, war unser Vorwand. Dennoch kam es oft vor, dass ich bei der Liebe hoffte, sie hätte die Pille heimlich abgesetzt. Und würde mir eines Tages mit einem zärtlichen Lächeln auf den Lippen eröffnen: »Ich erwarte ein Kind, Fabio.« Wie ein Geschenk, an uns zwei. An unsere Liebe.
Ich wusste, dass ich ihr von diesem Wunsch hätte erzählen sollen. Auch davon, dass ich sie heiraten wollte. Dass sie wirklich meine Frau sein sollte. Vielleicht hätte sie Nein gesagt. Aber wir hätten klare Fronten geschaffen. Weil das »Ja« und das »Nein« im ein - fachen Glück des gemeinsamen Lebens ausgetauscht worden wären. Aber ich hatte geschwiegen. Sie auch, notgedrungen. Bis dieses Schweigen uns voneinander entfernt, uns getrennt hatte.
Statt zu antworten, hatte ich ausgetrunken, und Sonia war fortge - fahren: »Sein Vater hat mich sitzen lassen. Vor fünf Jahren. Er hat nie ein Lebenszeichen von sich
Weitere Kostenlose Bücher