Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea
war schon weg. Zur gleichen Zeit wie immer. Also hat er hier angerufen, weil er dachte, bei der Hitze ist sie vielleicht nach Hause gegangen, um zu duschen und ... Vergeblich. Da hat er sich Sorgen gemacht und die Nachbarin angerufen. Die Frauen halfen sich manchmal aus. Als sie an die Tür geklopft hat, stand sie halb offen. Sie ist es, die uns gerufen hat, die Nachbarin.«
Die Wohnung füllte sich mit Lärm und Stimmen.
»Guten Abend, Kommissar«, sagte Béraud und erhob sich.
Ich sah auf. Vor mir stand eine große, junge Frau. In schwarzen Jeans und T-Shirt. Eine schöne Frau. Ich löste mich so gut es ging aus meinem klebrigen Sessel.
»Ist das der Zeuge?«, fragte sie.
»Ein ehemaliger Mitarbeiter des Hauses. Fabio Montale.«
Sie reichte mir die Hand.
»Kommissar Pessayre.«
Ihr Händedruck war fest. Die Handfläche warm. Herzlich. Ihre schwarzen Augen waren ständig in Bewegung. Lebhaft. Voller Leidenschaft. Für den Bruchteil einer Sekunde sahen wir uns an. Glaubten für den Moment, dass Gerechtigkeit den Tod abschaffen könnte. Das Verbrechen.
»Erzählen Sie.«
»Ich bin müde«, sagte ich und setzte mich wieder. »Furchtbar müde.« Und meine Augen füllten sich mit Tränen. Endlich.
Tränen waren das einzige Mittel gegen Hass.
F ü nftes Kapitel
In dem selbst Nutzloses gut zu sagen
und zu h ö ren sein kann
Ich hatte nicht auf die Sterne gespuckt. Ich konnte nicht.
Draußen, auf offener See, bei den Riou-Inseln, hatte ich den Motor abgestellt und das Boot treiben lassen. Ungefähr dort, wo mein Vater mich fest unter den Armen gehalten und das erste Mal ins Meer getaucht hatte. Ich war acht Jahre. So alt wie Enzo. »Hab keine Angst«, sagte er. »Hab keine Angst.« Eine andere Taufe hatte ich nicht gehabt. Und wenn das Leben mir wehtat, kam ich immer wieder an diesen Ort zurück. Wie um mich dort, zwischen Meer und Himmel, mit dem Rest der Welt zu versöhnen.
Nachdem Lole mich verlassen hatte, war ich auch hierher gekommen. Genau an diesen Punkt. Für eine ganze Nacht. Eine ganze Nacht, um alles aufzuzählen, was ich mir vorwerfen konnte. Weil es gesagt werden musste. Wenigstens ein Mal. Wenn auch ins Nichts. Es war an einem 16. Dezember. Die Kälte kroch mir unter die Haut bis auf die Knochen. Trotz der tiefen Züge Lagavulin, den ich mir heulend einflößte. Als ich in der Morgendämmerung wieder zurückfuhr, hatte ich das Gefühl, aus dem Land der Toten zurückzukehren.
Allein. In der Stille. Eingehüllt ins Lichtermeer der Sterne. In das Zelt, das sich am blau-schwarzen Himmel abzeichnete. Aber auch in ihren Widerschein vom Meer. Die einzige Bewegung war das Plätschern meines Bootes auf dem Wasser.
Ich ließ mich treiben, bewegungslos. Mit geschlossenen Augen. Bis ich schließlich merkte, wie der beklemmende Klumpen aus Abscheu und Trauer sich in mir löste. In der frischen Luft hier draußen gewann meine Atmung ihren natürlichen Rhythmus zurück. Befreit von der langen Lebens-und Todesangst.
Sonia.
»Sie ist tot. Ermordet«, hatte ich ihnen gesagt.
Fonfon und Honorine hatten auf der Terrasse Rommé gespielt.
Honorines liebstes Kartenspiel. Das sie immer gewann, weil sie es liebte zu gewinnen. Oder weil Fonfon sie gewinnen ließ, weil er es liebte, ihre Freude beim Gewinnen zu sehen. Fonfon hatte einen Pastis vor sich stehen. Honorine einen Rest Martini. Sie hatten zu mir aufgesehen. Erstaunt, dass ich so früh zurückkam. Zwangsläufig beunruhigt. Ich hatte nur erklärt: »Sie ist tot. Ermordet.«
Ich hatte sie angesehen, dann war ich mit einer Decke und meiner Jacke unter einem Arm und der Flasche Whisky in der anderen Hand über die Terrasse und die Stufen hinunter zu meinem Boot gegangen und hatte mich in die Nacht gestürzt. Wie jedes Mal sagte ich mir, dass dieses Meer, das mein Vater mir wie ein Königreich offenbart hatte, sich mir für immer entziehen würde, weil ich kam und die verkorksten Schicksalsschläge der Welt und der Menschen auf ihm ablud.
Als ich die Augen im Funkeln der Sterne aufschlug, wusste ich, dass ich noch einmal davongekommen war. Mir schien, der Lauf der Welt war stehen geblieben. Das Leben hatte ausgesetzt. Nur in meinem Herzen nicht, wo in diesem Moment jemand weinte. Ein achtjähriges Kind und sein Großvater.
Ich nahm einen tiefen Zug Lagavulin. Sonias Lachen klang in meinen Ohren wider, dann ihre Stimme. Alles fand sich wieder ein. Mit Präzision. Ihr Lachen. Ihre Stimme. Und ihre Worte.
»Es gibt einen Ort, der L'eremo Dannunziano genannt
Weitere Kostenlose Bücher