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Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea

Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea

Titel: Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Claude Izzo
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sich umzusehen. Ich klammerte mich an die Theke wie ein Ertrinkender an eine Boje. Ange warf mir erschrockene Blicke zu. Ich bedeutete ihm, mir einen Cognac zu servieren. Einen einzigen, auf ex. Das konnte mir auch nicht mehr schaden.

F ü nftes Kapite l
    In dem man im Ungl ü ck bemerkt,
dass man im Exil lebt

    Ich hatte noch nie in meinem Leben etwas Entsetzlicheres gesehen. Und ich hatte wahrhaftig Schreckliches erlebt. Leila lag auf einem Feldweg, mit dem Gesicht zur Erde. Nackt. Sie hatte ihre Kleider unter den linken Arm geklemmt. Im Rücken: drei Kugeln. Eine davon hatte ihr Herz durchbohrt. Fette, schwarze Ameisen wanderten in Kolonien über die Einschüsse und zahlreichen Kratzer auf ihrem Rücken. Jetzt griffen auch noch die Fliegen an und machten den Ameisen ihren Anteil an getrocknetem Blut streitig.
    Leilas Körper war von Insektenstichen entstellt. Immerhin schien er nicht von einem halb verhungerten Hund oder einer Maus angenagt worden zu sein. Ein schwacher Trost, sagte ich mir. Getrocknete Scheiße klebte zwischen ihren Pobacken und auf den Schenkeln. Lange, gelbliche Schlieren. Ihre Gedärme mussten sich vor Angst entleert haben. Oder bei der ersten Kugel.
    Nachdem sie Leila vergewaltigt hatten, mussten sie ihr die Freiheit versprochen haben. Es muss sie erregt haben, sie nackt wegrennen zu sehen. Der Hoffnung am Ende des Weges entgegen. Am Beginn der Straße. Vor den Scheinwerfern eines entgegenkommenden Wagens. Mit wiedergefundener Stimme: Hilfe! Helft mir! Die Angst vergessen. Das Unglück, das verblasst. Der Wagen, der anhält. Die Menschheit, die zur Hilfe eilt, Rettung bringt, endlich.
    Leila muss nach dem ersten Schuss weitergelaufen sein. Als hätte sie nichts gemerkt. Als wäre es nicht da gewesen, dieses Brennen im Rücken, das ihr den Atem nahm. Ein verlorenes Rennen um Leben und Tod. Sie lief schon im Jenseits. Im Reich der Scheiße, Pisse und Tränen. Und des Staubes, zu dem sie selber werden würde. Weit weg vom Vater, von den Brüdern, den Liebhabern für einen Abend, der Liebe ihres Lebens, einer zukünftigen Familie, eigenen Kindern.
    Nach der zweiten Kugel muss sie geschrien haben. Weil der Kör - per sich trotz allem weigert zu schweigen. Er begehrt auf. Nicht mehr gegen die brüllenden Schmerzen, darüber ist er hinaus. Sondern aus Lebenswillen. Der Geist mobilisiert seine ganze Energie und sucht ein Ventil. Sucht und sucht. Vergisst, dass du dich ins Gras legen und schlafen wolltest. Schreie, weine, aber laufe. Laufe. Jetzt werden sie dich ziehen lassen. Die dritte Kugel hatte all diesen Träumen ein Ende gemacht. Sadisten.
    In bitterer Wut verscheuchte ich Fliegen und Ameisen mit dem Handrücken. Ich betrachtete den Körper, den ich begehrt hatte, ein letztes Mal. Von der Erde stieg ein heißer, betäubender Duft nach wildem Thymian auf. Ich hätte dich gern hier geliebt, Leila, an einem Sommerabend. Ja, ich hätte dich geliebt. Wir hätten Lust und Glück empfunden, immer wieder. Auch wenn sich unter unseren Fingerspitzen, unter jeder neu erfundenen Zärtlichkeit die Tren - nung, Tränen, Desillusion, was weiß ich noch, Traurigkeit, Angst und Verachtung abgezeichnet hätten. Es hätte nichts an der Verkommenheit der Menschen geändert, die die Welt regieren. Sicher nicht. Aber wenigstens hätten wir beide in unserer Leidenschaft der Welt getrotzt. Ja, Leila, ich hätte dich lieben sollen. Worte eines alten Trottels. Ich bitte dich um Verzeihung.
    Ich bedeckte Leilas Körper wieder mit dem weißen Laken, das die Gendarmen ihr übergeworfen hatten. Über ihrem Gesicht zögerte meine Hand. Der Hals von einer Verbrennung gezeichnet, das linke Ohrläppchen von einem abgerissenen Ring zerfetzt, die Lippen erdverschmiert. Ich spürte, wie sich mir der Magen umkrempelte. Zornig zog ich das Laken darüber und stand auf. Niemand sagte ein Wort. Schweigen. Nur die Grillen zirpten weiter. Ahnungslos, gleichgültig gegenüber menschlichen Tragödien.
    Als ich aufstand, sah ich, dass der Himmel blau war. Von einem klaren, reinen Blau, das die dunkelgrünen Kiefernnadeln noch heller erscheinen ließen. Wie auf Postkarten. Verfluchter Himmel. Verfluchte Grillen. Verfluchtes Land. Und verfluchtes Arschloch, das ich war. Ich ging schwankend weg. Trunken von Schmerz und Hass.

    Ich ging den kleinen Pfad mitten im Gezirpe der Grillen hinunter. Wir waren nicht weit von dem Dorf Vauvenargues, wenige Kilo - meter von Aix-en-Provence, entfernt. Ein Wanderpaar hatte Leilas Leiche gefunden. Dies ist

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