Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea
man daran erinnert, dass man im Exil lebt. Mein Vater hatte mir das erklärt.
Mouloud hatte gerade die zweite Frau in seinem Leben verloren. Seinen ganzen Stolz. Die Frau, die alle seine Opfer bis zum heutigen Tag gerechtfertigt hätte. Die seiner Entwurzelung einen Sinn gege - ben hätte. Algerien war nicht mehr sein Land. Frankreich hatte ihn endgültig verstoßen. Jetzt war er nur noch ein armer Araber. Keiner würde sich für sein Schicksal interessieren.
Er wartete hier auf den Tod, in dieser verkommenen Stadt. Nach Algerien würde er nicht zurückkehren. Einmal war er wieder hingefahren, nach dem Job in Fos. Mit Leila, Driss und Kader. Um zu sehen, wie es »dort unten« war. Sie waren drei Wochen geblie - ben. Er hatte schnell begriffen. Mit Algerien verband ihn nichts mehr. Die Geschäfte lagen leer und heruntergekommen da. Das Land war unter den alten Mudschaheddin aufgeteilt worden und lag brach. Die Dörfer waren verlassen und siechten dahin. Nichts, um Träume wahr zu machen, ein neues Leben zu beginnen. Er hatte seine Jugend in den Straßen von Oran nicht wieder gefunden. Alles war »auf der anderen Seite«. Und Marseille begann ihm zu fehlen.
An dem Abend, an dem sie in diese kleine Zweizimmerwohnung eingezogen waren, hatte Mouloud seinen Kindern statt eines Gebets erklärt: »Wir werden in diesem Land leben, in Frankreich. Mit den Franzosen. Das ist kein Zuckerschlecken. Es ist auch nicht das größte Übel. Es ist das Schicksal. Passt euch an, aber vergesst nie, wer ihr seid.«
Dann rief ich Kader in Paris an. Damit er sofort käme. Und sich darauf einstellte, einige Zeit zu bleiben. Mouloud würde ihn brauchen. Driss auch. Dann sagte Mouloud einige Worte auf Ara - bisch zu ihm. Schließlich rief ich Mavros im Boxstudio an. Driss trainierte dort wie jeden Samstagnachmittag. Aber ich wollte Mavros haben. Ich erzählte ihm, was passiert war. »Finde ihm einen Wettkampf, Georges. Schnell. Und lass ihn arbeiten. Jeden Abend.«
»Ich bring ihn um, du Idiot, wenn ich ihn in den Ring stelle. Auch noch in zwei Monaten. Er hat das Zeug zum Boxer. Aber der Junge ist noch nicht so weit.«
»Mir ist es lieber, er bringt sich so um, als Dummheiten zu machen. Georges, mach das für mich. Kümmer dich um ihn. Persönlich.«
»Okay, okay. Ich geb ihn dir?«
»Nein, sein Vater sagt es ihm gleich. Wenn er zurückkommt.«
Mouloud nickte. Er war der Vater. Es war seine Sache, es Driss beizubringen. Als ich auflegte, erhob sich ein alter Mann aus dem Sessel.
»Du gehst jetzt besser, M'sieur. Ich möchte allein sein.«
Das war er. Und verloren.
Die Sonne war gerade untergegangen, und ich befand mich mitten auf dem Meer. Seit über einer Stunde. Ich hatte ein paar Flaschen Bier, Brot und Wurst mitgenommen. Aber ich kam nicht zum Fischen. Dazu braucht man einen freien Kopf. Wie beim Billard. Man fixiert die Kugel und konzentriert sich auf die gewünschte Laufbahn. Dann stößt man mit genau der richtigen Kraft zu. Sicher und entschlossen.
Beim Fischen wirft man die Angel aus und konzentriert sich dann auf den Schwimmer. Man wirft die Angel nicht einfach so ins Meer. Am Wurf erkennt man den Fischer. Im Werfen liegt die Kunst des Angelns. Mit dem Köder am Haken wird man selbst Teil des Meeres. Zu wissen, dass der Fisch da unten schwimmt, reicht nicht aus. Die Angel muss federleicht im Wasser landen. Man muss die Berührung des Fisches im Voraus spüren, um ihn sofort an den Haken zu bekommen, wenn er zuschnappt.
Meine Würfe waren ohne Überzeugung. Ich hatte einen Kloß im Hals, den das Bier nicht wegspülen konnte. Ich war das reinste Nervenbündel. Weinen hätte gut getan. Aber keine Träne kam. Ich würde mit diesem schrecklichen Bild von Leila leben müssen und den Schmerz mit mir herumtragen, solange ihre Schänder und Mörder frei herumliefen. Dass Loubet den Fall bearbeitete, beruhig - te mich ein wenig. Er war gründlich. Er würde kein Indiz vernach - lässigen. Wenn die Chancen eins zu tausend standen, diese Dreck - schweine zu fassen, würde er sie kriegen. Er hatte es bewiesen. Auf diesem Gebiet war er besser als die meisten, besser als ich.
Trotzdem hätte ich die Ermittlungen lieber selbst geführt . Nicht, weil ich eine persönliche Sache daraus machen wollte. Aber solchen Abschaum in Freiheit zu wissen, war mir unerträglich. Nein, das war es nicht wirklich. Ich wusste, was mich quälte. Der Hass. Ich hätte diese Typen am liebsten umgebracht.
Heute lief gar nichts. Aber ich wollte auch nicht
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