Marter: Thriller (German Edition)
»Interessant. Glauben Sie an Zufälle, Capitano?«
»Ja«, sagte sie, und er lachte.
»Gute Antwort.«
Sie kämpften sich durchs Gestrüpp in Richtung Turm. »Ursprünglich wurde die Klinik hier von Nonnen betrieben«, erzählte er beiläufig. »Ich bin alt genug, um mich noch daran zu erinnern. Tatsächlich hat es mich schon bei einem meiner ersten Fälle hierher verschlagen. Ein Selbstmord, einer der Klinikärzte. Wie sich herausstellte, hatte er sich selbst an den Medikamenten der Patienten bedient. Er hat sich vom Turm gestürzt. Klar behaupteten die Leute, das sei wieder mal ein Beweis für den Fluch, der auf Poveglia lastet.«
Das verlassene Krankenhaus lag nun direkt vor ihnen. Dem vierstöckigen Ziegelgebäude haftete spürbar ein Hauch von Verfall an. Irgendwann hatte man einen Bereich eingerüstet und angefangen, die unteren Stockwerke mit Brettern zu vernageln, doch war man nicht unbedingt effektiv vorgegangen, denn die Türen hingen schief in den Angeln, Fensterbretter hatten sich gelöst, und überall waren Graffiti zu sehen.
»Kinder«, meinte Piola. »Ich habe gehört, sie kommen hierher, als eine Art Mutprobe. Wer schafft es, eine ganze Nacht in der Geisterklinik zu verbringen, so nach dem Motto.«
Die Eingangstür stand weit offen. Die Eingangshalle war von Müll und Schutt übersät – Betonbrocken, herausgerissene Stromkabel, ein alter Rollstuhl ohne Räder. Irgendetwas Kleines, Wuseliges huschte ins Nebenzimmer. Kat ertappte sich selbst dabei, wie sie sich wünschte, Piola möge nicht vorschlagen, sie sollten sich getrennt voneinander auf die Suche machen.
»Wir sollten uns trennen«, sagte er auch schon. »Ich gehe in die Richtung.«
Sie hielt sich so dicht wie möglich an den Fenstern. In den Räumen roch es nach Rauch und verbranntem Papier. Ein Poltern von oben hallte von den nackten Bodenplanken wider und ließ sie aufschrecken. Hoffentlich nur eine Taube. Sie fand noch mehr Schutt und Trümmer – fast so, als hätte man das Gebäude geplündert und nicht einfach nur leer stehen lassen. Glassplitter knirschten unter ihren Sohlen. Seltsame elektrische Geräte, die ihrer soliden Bauweise nach zu schließen einem früheren Jahrzehnt entstammten und aus Materialien wie Bakelit und Messing bestanden, türmten sich in einer Ecke.
Als sie dann durch eine Tür trat, blieb ihr fast das Herz stehen.
8
Daniele Barbo nahm ein Vaporetto vom Festland zurück nach Venedig. Er hatte keinen Ton zu der kleinen, aber recht hartnäckigen Gruppe Journalisten und Fans gesagt, die ihn vor dem Gerichtsgebäude erwartete. Er war schuldig gesprochen worden, genau wie er es erwartet hatte. Die Urteilsverkündung war um fünf Wochen vertagt worden, damit dem Gericht Zeit blieb, ein psychologisches Gutachten zu erstellen, das darüber bestimmte, ob er in der Verfassung für eine Gefängnisstrafe war. Seine Anwältin hatte diese Taktik herangezogen, um Zeit zu gewinnen, nichts weiter. Wenn man ihn für untauglich befand, in einem gewöhnlichen Gefängnis einzusitzen, dann würde man ihn stattdessen in eine psychiatrische Einrichtung schicken, aus der er erst wieder freikäme, wenn die Ärzte ihn für gesund genug erklärten, in ein Gefängnis übergesiedelt zu werden. Es handelte sich um eine klassische Pattsituation, ein verwaltungstechnischer Teufelskreis von der Sorte, wie sie im italienischen Rechtssystem leider allzu oft vorkam. Wenn man erst einmal darin verwickelt war, das wusste er, dann wäre es so gut wie unmöglich, sich wieder herauszuwinden.
Wie es aussah, war da eine größere Geldstrafe die bessere Option. Auf seine Umwelt wirkte Daniele Barbo unvorstellbar reich, die Sorte Mensch, die eine Strafe in Millionenhöhe bezahlen konnte, ohne darüber nachzudenken. Nur wenigen Leuten war klar, dass er in Wahrheit so gut wie keinen Cent mehr besaß – keiner der Journalisten, die diverse Porträts über ihn verfasst hatten, hatte sich je die Mühe gemacht, dies aufzudecken. Sein Vater hatte sein ganzes Vermögen in moderne Kunst gesteckt, dann hatte er die Kunstwerke einer wohltätigen Stiftung hinterlassen, die seinen Namen trug. Die Aktienanteile am Familienunternehmen waren indessen wieder und wieder neu veräußert und dadurch wertlos gemacht worden, ohne dass Daniele daran beteiligt gewesen wäre. Er bekam die Erlaubnis, in der Ca’ Barbo zu wohnen, dem Palazzo der Familie, allerdings unter strengen Auflagen: Das Gebäude selbst gehörte der Stiftung und durfte nicht veräußert werden. Er
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