Marter: Thriller (German Edition)
anzuhalten. »Schätze mal, die brauchen Platz, Ma’am.«
Im Inneren des Gebäudes wand sich eine eiserne Treppe nach unten in die Erde. Sie vibrierte vom Getrampel der Belleville-Boots, die zur Grundausstattung der Soldaten gehörten. Holly kämpfte sich an dem Strom von Militärleuten vorbei und gelangte in einen langen, niedrigen Tunnel, der von nackten Glühbirnen beleuchtet wurde. Uniformierte trugen noch mehr Kisten aus beiden Richtungen heran und schichteten sie am Ausgang zu Stapeln.
Sie suchte nach dem verantwortlichen Unteroffizier und wiederholte ihre Frage.
Auch er zuckte mit den Schultern. »Wir lagern nur ein bisschen was von dem Zeug um, das ist alles.«
»Warum?«
Sein Blick ließ keinen Zweifel daran, dass er Anweisungen nur selten hinterfragte. Sie versuchte es anders. »Wohin bringen Sie die Kisten?«
»Camp Darby, hab ich gehört.«
»Wissen Sie, wo ich die Akten aus dem Jahr 1995 finde?«
»Zufällig weiß ich das tatsächlich. Ganz dahinten auf der linken Seite.«
Ein Stück weiter den Tunnel entlang wurden die Abstände zwischen den einzelnen Glühbirnen spärlicher. In schwach beleuchteten Nischen fanden sich dort Paletten und Regale, auf denen sich die Kisten stapelten. Der Begriff »Archiv« war viel zu hoch gegriffen: Das hier war lediglich ein Loch, in das man diejenigen Unterlagen verfrachtete, von denen keiner eine Ahnung hatte, ob man sie wegwerfen konnte. Trotzdem hatte sich jemand die Mühe gemacht, sie zu beschriften: Laminierte DIN -A4-Blätter, die neben den Nischen klebten, verrieten, zu welchem Jahr welche Kisten gehörten. Einige Jahrgänge hatten höhere Stapel hervorgebracht als andere. Vermutlich waren das jene Zeiten, da größere militärische Einsätze stattgefunden hatten.
Die Nische zum Jahr 1995 beherbergte einen Haufen Kisten. Die Schlange von Soldaten-Ameisen leerte nicht weit entfernt eine Nische nach der anderen. Ihr blieben maximal noch zwanzig Minuten, so schätzte sie, ehe man sie höflich bitten würde, Platz zu machen, damit man auch diese Nische leer räumen konnte.
Die ersten drei Kisten, die sie öffnete, enthielten Standardformulare zur Materialanforderung, die gewiss für niemanden von Interesse waren. Die nächsten beiden brachten ein buntes Durcheinander an Verwaltungspapieren zum Vorschein. Die sechste schließlich enthielt Luftaufnahmen. Eine der Anfragen von Barbara Holton hatte sich auf derartige Bilder bezogen, wie sie sich erinnerte, doch woher sollte sie wissen, für wen diese Aufnahmen gemacht worden waren oder welches Gebiet sie zeigten? Sie beschloss weiterzusuchen.
Die Arbeit war ziemlich zeitraubend, und bis sie die Hälfte geschafft hatte, standen bereits die ersten Soldaten wartend am Eingang zu der Nische. »Machen Sie doch bitte erst einmal an der Nische gegenüber weiter, okay?«, rief sie lächelnd. »Ich bin hier fast fertig.« Denn ihr war klar, dass ein freundliches Lächeln in diesem Fall mehr bewirkte als der Versuch, den Leuten neue Anweisungen zu geben. Sie wandte sich wieder den Kisten zu und zog einen weiteren, ziemlich dicken Aktenordner heraus. Ein paar Worte in einer slawischen Sprache stachen ihr ins Auge. Sije č anj – Ožujak 1995 … Meda č ki džep. Planirani unaprijed za glavne SIGINT USAREUR . Sie sprach zwar kein Serbokroatisch, doch ihre militärischen Akronyme beherrschte sie aus dem Effeff. Daher wusste sie genau, dass SIGINT USAREUR »Signals Intelligence originating from US Army Europe« bedeutete. Sie schnappte sich die Unterlagen. Eine Akte direkt darunter trug den von Hand hingekritzelten Titel »66th INTERCEPTS BiH«. Die 66. Brigade stellte die Dachorganisation des Militärgeheimdienstes in Europa dar, und BiH stand vermutlich für Bosnien-Herzegowina. Dann waren da noch ein paar weitere Unterlagen, die Datums- und Zeitangaben zu enthalten schienen, auch diese in derselben slawischen Sprache. Sie klemmte sich auch diese Akten unter den Arm und rief dann: »Ihr könnt dann ran, Jungs.«
Plötzlich kam ihr noch ein Gedanke, und sie wandte sich an einen der soeben vorübergehenden Soldaten. »Die hier müssen irgendwann wieder zu den anderen dazusortiert werden«, meinte sie und hielt den Stapel hoch. »Irgendeine Ahnung, an wen ich sie dann schicken soll?«
»Negativ, Ma’am. Die Anfrage kam über Intel, mehr weiß ich nicht.«
Sie nickte dankend und eilte davon. Es hatte wohl nichts zu bedeuten, beschloss sie, dass Barbara Holtons Anfrage im Zuge des Freedom-of-Information-Act speziell
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